Am Originalschauplatz
Am Originalschauplatz

Am Originalschauplatz

Immer wieder erstaunt es mich, wie wenige Literaturkritiken tatsächlich von Literatur handeln. Fielen im Laufe des Artikel nicht irgendwo die Stichworte „Roman“ und „Autorin“ bzw. „Autor“, dann wüsste man manchmal gar nicht, ob da wirklich von einem Buch oder nicht doch von einem Film die Rede ist. Selbst in einem Seminar für Übersetzungskritik, das ich im vergangenen Jahr besucht habe, herrschte die fast einhellige Meinung, die sprachlichen Aspekte eines schriftlichen Werks seien nicht unbedingt das Wichtigste. Aber was denn bitte dann?! Der Inhalt? Den könnte man oft genug auch mittels Bildern erzählen. Weshalb ich die Beantwortung der Frage nach der Notwendigkeit der Buchstabenform für ein unerlässliches und auch zentrales Element einer Literaturkritik halte, ja, eigentlich für deren Grund und Ausgangspunkt.

Weil das jedoch nicht die leichteste Übung ist (meiner Meinung nach sogar schwieriger als die Bildbeschreibung einer Filmkritik, eben weil es in demselben Medium, der Sprache, stattfindet wie das Werk selbst), dient vielen Kritikern die Anbindung an die Wirklichkeit gleichsam als Ersatz für die Metaebene. Damit sie behaupten können, eben nicht nur den Inhalt nacherzählt zu haben. Was etwa Charlotte Roches Roman „Schoßgebete“ literarisch tut und macht, darüber sprach (meines Wissens und soweit ich die Artikel über dieses Buch noch ertragen habe) einzig Thomas Steinfeld in der SZ; alle anderen dagegen interessierten sich nur für Roches Privatleben und den Mode- und Mimikstyle ihrer Interviewerinnen, sodass ich dank all dieser Texte und Bilder darüber deutlich besser informiert bin als über den Roman, von dem all diese überflüssigen Publikationen zu sprechen vorgaben.

Trauriger Höhepunkt dieser Entwicklung ist die neue Literatursendung des ZDF namens „Das blaue Sofa“. Die Momente, in denen diese Sendung von Literatur handelt, sind äußerst rar, und auch dann bekommt man nur die üblichen „Lakonie“- und „feine Ironie“-Floskeln. Vorherrschend ist dagegen der Drang, die Literatur an die Wirklichkeit zurückzubinden, sie der Wirklichkeit zu versichern (mithin die fürchterlichste und tragischste Verwechslung, die der Literatur passieren kann, weil sie sie ihres Kunstcharakters beraubt). Schriftsteller werden stets am „Originalschauplatz“ (was immer das sein soll) ihres Romans interviewt – Ilija Trojanow auf dem Hintertuxer Gletscher, Sepp Bierbichler am Ufer des Starnberger Sees; und wenn Wolfgang Herles Ursula März´ Anekdotensammlung „Fast schon kriminell“ vorstellt, dann steht er vor der JVA Moabit und sagt, das Buch handle von Menschen, die „hier im Gefängnis“ landen.

Ferdinand von Schirachs Roman „Der Fall Collini“ wiederum wird selbstredend im Berliner Landgericht verrissen („Hier im Landgericht Berlin spielt ein Mordprozess“) – und zwar mit keineswegs literaturkritischen Kategorien. Zunächst heißt es, von Schirach habe sich „Bestsellerehren erworben, und umso größer sind nun die Erwartungen“ – was ein Marketing-, aber kein literaturkritisches Argument ist. Und dann erklärt Herles auch noch, es habe ihn am „meisten geärgert“ (seit wann ist Ärger ein Argument?), dass von Schirachs Großvater in diesem Roman „viel zu gut wegkommt“. Dass der NS-Reichsjugendführer Baldur von Schirach in diesem Buch gar nicht vorkommt, ist Herles offenbar egal, die Figur des alten Mannes wird einfach mit Baldur von Schirach gleichgesetzt, genauso wie nur wenig später Gisela Elsner und Klaus Roehler umstandslos als Eltern des Protagonisten Robert in Oskar Roehlers Buch „Herkunft“ bezeichnet werden. Dass von Schirach seinen Großvater nicht einmal gekannt hat, „kann“, so Herles „keine Entschuldigung sein für einen Schriftsteller, der sich mit dieser Zeit beschäftigt“. Soll heißen: Ab sofort besteht für Schriftsteller die Pflicht zum Autobiografischen, weil „Das blaue Sofa“ Literatur anders gar nicht erst begreifen kann.

Vom Fiktionalen scheint Wolfgang Herles schlichtweg keinen Begriff zu haben. Oder vielleicht interessiert es ihn auch einfach nicht. Oder das ZDF denkt, es interessiere seine Zuschauer nicht. Nur frage ich mich, wie man Menschen für Literatur begeistern und/oder über Literatur informieren möchte, wenn man über Literatur kaum ein Wort verliert und stattdessen sich immer wieder nur an eine mehr als diffuse Wirklichkeit heranmacht und unbedingt die Person hinter den Buchstaben porträtieren möchte, die – meine Erfahrung – immer ‚dümmer‘ ist als ihr eigener Text. Eine kleine Auswahl der Herlesschen Fragen:

WH: Teilen Sie persönlich diese Fortschrittsfeindlichkeit ihres Helden?

WH: Aber Sie sind schon auf der Seite dieses Gletscherforschers?

WH: Wie viel Trojanow steckt darin?

WH: Man könnte natürlich vermuten, Sie hätten die ganze Geschichte vorverlegt, damit der Verdacht des Autobiografischen ausgeschlossen werden kann.

WH: Ein wichtiges Thema ist die Abkehr von Glaube und Religion. Sepp Bierbichler: Was soll ich dazu sagen? WH: Ich stelle Ihnen nur die Gretchenfrage: Wie steht´s mit Ihrem Glauben?

WH: Das heißt, die Fantasie und das Schreiben ersparen einem schlimmere Formen der Aggression? Bierbichler: Vielleicht. WH: Ist das bei Ihnen so? SB: Nein.

WH: Ist das ein Grund, warum Sie jetzt diese Sprachkraft hinschreiben: um sich selbst zu beweisen, dass Sie doch mehr können als bairisch?

WTF?! Und zu guter Letzt verbraucht Herles auch noch kostbare (da teure und auf 30 begrenzte) Minuten seiner Sendezeit für die selbstreflexive Frage, warum Bierbichler partout nicht auf dem blauen Sofa Platz nehmen wollte, das deshalb leer im Hintergrund steht (aufs Bild musste es natürlich, um den Namen der Sendung zu rechtfertigen). Was Bierbichler mit seiner Talkshow-Aversion erklärt. Woraufhin Herles kontert, das hier sei garantiert keine Talkshow. Was gelogen ist: „Das blaue Sofa“ ist eine Talkshow durch und durch, mit all den üblichen Ingredienzien: groteske Angst vor der Metaebene, verkrampfte Personalisierung, verzweifelter Zwang zur totalen Präsenz. Mithin also das genaue Gegenteil von dem, was die Literatur ausmacht: Literatur spielt niemals in einem konkreten „Hier“, sondern immer nur zwischen zwei Buchdeckeln. Das Papier (oder meinetwegen auch der E-Reader) ist der einzige Originalschauplatz eines Romans.

25 Kommentare

  1. Pingback: Too much information - Papierkorb - Nachtgeschichten

  2. Vielen herzlichen Dank für Ihren tollen Beitrag! Sie beleuchten treffsicher und mit schönen Beispielen Fragen, die ich mir bezüglich der gegenwärtigen Literaturkritik auch schon gestellt habe. Deren „Sprachvergessenheit“ und Fixierung auf den biographischen Hintergrund betrifft m. E. die Werke „prominenter“ Autoren (wie Roche, Bierbichler etc.) ganz besonders, gilt aber tatsächlich für die gesamte Gegenwartsliteratur.

  3. „Vom Fiktionalen scheint Wolfgang Herles schlichtweg keinen Begriff zu haben. Oder vielleicht interessiert es ihn auch einfach nicht.“ Genau das dachte ich auch. Meine Augen haben während des Anschauens genauso gezuckt wie die von Bierbichler. Und dann habe ich mir vorgestellt, wie der Prof. bei dem ich vor Jahren die „Einführung in die Literaturanalyse“ hatte, Herrn Herles wahrscheinlich hochkant rausgeschmissen hätte.

  4. Vielen Dank für die Kritik. Wir haben uns beim Anschauen auch schon gewundert, was die Sendung mit Literatur zu tun hat. Das Beste waren noch Herr Bierbichlers vergebliche Versuche, die Fragen des Moderators trotzdem ernst zu nehmen.

  5. krusty20

    Es ist ohnehin ein Treppenwitz ohnegleichen, dass man ein Sofa auf einen Gletscher karrt, um über ein Buch zu berichten, in dem die Hauptperson sich über den Klimawandel, die vielen Touristen auf den Gletschern und die damit einhergehende Gletscherschmelze ärgert.
    Diese obskure Sendung hat sich im Bemühen um Originalität komplett von etwaigen Inhalten gelöst. Schade um die vergeudete Sendezeit und die Produktionskosten.

  6. Dankeschön für diesen Beitrag, irgendjemand muss es in der Deutlichkeit sagen: Mit Literaturkritik hat das, was in den Medien und insbesondere im TV derzeit stattfindet, schlichtweg nichts zu tun. Da werden Inhalte nacherzählt und Biographismus betrieben, zu mehr reicht es nicht.

  7. Pingback: »Das blaue Sofa« im ZDF: Den alten Mann bitte nicht mehr! - literaturcafe.de - Der literarische Treffpunkt im Internet

        1. katrin

          Nein, das mit der Sprache stimmt durchaus: Das Adjektiv schreibt sich schon „bayerisch“ (z.B. in „bayerische Tracht“ oder so), aber die Sprache buchstabiert sich tatsächlich „Bairisch“. Sagt zumindest mein Duden …

  8. Danke für den Beitrag! Seinen unangenehmsten Ausdruck fand diese „Anbindung an die Wirklichkeit“ und „Pflicht zum Autobiografischen“ meines Achtens im Gespräch mit Sepp Bierbilchler, wo Herles Varianten der Frage „Und ist das jetzt autobiografisch???“ auf verschiedene Romanstellen anwendete. Nach dem Motto: Natürlich sind wir eine hochseriöse Kultursendung, aber wenn Sie hier und jetzt erzählen würden, dass Sie Ihre Mutter gehasst haben oder – besser noch – als Kind in der Klosterschule vergewaltigt worden sind, wäre das schon geil!

  9. Danke für diese schöne Analyse!

    Es ist erschreckend, dass Herles‘ Fragen an die Autoren und seine Buchbesprechungen sich nur um zwei Dinge drehen:

    – wie viel Biografie, eigenes Erleben und eigene Weltanschauung des Autors steckt im Text?
    – wie nah ist der Text an der Wirklichkeit?

    Beides ist für die Bewertung eines fiktionalen Textes letztendlich irrelevant. Es sind Fragen, die Lischen Müller von der Regionalzeitung der 75jährigen Rentnerin erzählt, die gerade ihre Lebenserinnerungen für viel Geld bei einem Zuschussverlag veröffentlicht hat – aber doch nicht einer, der sich selbst für einen Medienprofi hält.

  10. Jeeves

    “Einführung in die Literaturanalyse”…
    …ist sicherlich genau solch‘ Schwachsinn wie der des Herrn Herles – nur eben die andere Seite der Medaille.
    Meinem kleinen Sohn hab ich erklärt, dass man auf die Lehrerfrage „Was will uns der Autor damit sagen“ nur lachen sollte. Alles, was der Autor „uns sagen will“ hat er doch in seinen Text gepackt. Oder eben nicht; aber dann erübrigt sich auch diese 19.Jahrhundert-Lehrer-Frage „was will der Autor uns damit sagen?“

  11. FF

    Alles richtig. Mit Vergnügen gelesen! Mir hat schon ein Detail gereicht, um mich gegen Herles einzunehmen: seine eitle Vorabankündigung, er gedenke sich mit den Autoren „auf Augenhöhe“ zu unterhalten.

    Mal abgesehen davon, daß diese inflationäre Floskel ohnehin immer gönnerhaft, von oben herab, gebraucht wird und eine Geisteshaltung verrät, die „Augenhöhe“ gerade ausschließt: der Mann hält sich selber für einen bedeutenden AUTOR! (Er hat nämlich „auch“ einen Roman verfaßt, den zu bewerten ich mir erspare.)

    Fazit: ein selbstverliebter Tropf, dem offenbar jede realistische Selbsteinschätzung abhanden gekommen ist. Von literaturwissenschaftlichen basics ganz zu schweigen…

    1. B. Wondraschek

      @FF: Laut Wikipedia hat der Mann drei Romane verfasst.
      Ob ihre Titel gemeinschaftlich als Kommentar der Sendung taugen, wage ich nicht zu beurteilen. Ich lese lieber, als mir Büchersendungen anzusehen.
      Eine blendende Gesellschaft – Roman (1996) Goldmann, ISBN 3-89667-005-0
      Fusion Roman (1999) Hoffmann und Campe, ISBN 3-455-02805-5
      Die Tiefe der Talkshow Roman (2004) dtv, ISBN 3-423-24382-1

  12. Vielen Dank für diesen Artikel!
    Ich hatte mir diese Sendung auch herausgepickt und wollte sie mir anschauen – dummerweise schlief ich dann aber etwa 20 Minuten zuvor auf dem Sofa (nicht blau) ein und wachte erst wieder auf, als die Sendung schon lange vorbei war. Habe mich ein wenig geärgert.
    Jetzt ärgere ich mich weniger – ich freue mich sogar, denn nach allem, was ich hier lese, wäre das Anschauen für mich eine Tortur geworden, denn ich hatte mich wirklich gefreut, dass es eine neue Literatursendung gibt. So habe ich also zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Habe mich nicht vor dem Fernseher aufgeregt und habe einen tollen Artikel darüber gelesen und eine weitere Homepage, die ich sicher öfter aufsuchen werde. 🙂

  13. Pingback: Das blaue (Talk-)Sofa « studiumdigital

  14. Thomas

    Dass es jede Kunst mit dem Artifiziellen zu tun habe (irgendwie eine Tautologie, ich weiß, aber wenigstens eine Definitorische) – oh, wie sehr wird dieser Umstand heute mit aller Macht vergessen gemacht, verdrängt, verleugnet.

    All diese Verengung auf das Realistische, Biographische, Zeitgeschichtliche; alle diese Rückführung auf das Allegorische, Metaphorische, was-will-uns-der-Autor-damit-sagen-Gymnasiallehrerhafte – kurz: die Reduktion des Kunstwerks auf die auslegende Übersetzung in das Einfache, Alltäglich-Verstehbare, Bürgerlich-Fassbare … was eine grauenerregende Verengung und Verstümmelung aller Kunst!

    Das Ignorieren der Ästhetik des Formalen (noch so eine Tautologie), das Wunder der Andersheit, die eigentlich Grundaufgabe jeder „wahren“ Kunst: nämlich immer auch einen Gegenentwurf zur Realität, ggfs. gerne auch mal hier und da zur Realität der Gegenwart zu leisten – da, so vermute ich, steckt ein gewisser tieferer Sinn, eine verquere Logik, ein grundlegendes System dahinter (ein System, was insbesondere von der von Dir angesprochenen Berufsgruppe unterbewusst verinnerlicht wird).

    Darum: herzlichen Dank für Deinen tollen Beitrag. Er kann aber nur der Beginn sein. Die Fragen, die Du aufwirfst, führen zu: warum wird Kunst auf das Banale reduziert, welche Angst steckt dahinter, und wer ist es, der da Angst vor dem Anderen, vor Gegenentwürfen, vor ästhetischer Transzendenz, vor dem Unerklär- und Unauslegbaren, dem Schönen, Wahren, Guten hat?

    Wo liegen die Ursachen? Ist es die Unmittelbarkeit und Ubiquität der postmodernen medialen Wirklichkeiten? Ist es die spätkapitalistische Verwertungs- und Aneignungslogik, die jede Fremdheit fürchtet und sogleich einzuebnen, auszulöschen, auzumerzen versucht? Ist es ein allgegenwärtiger diesseitsbezogener-zynischer Utilitarismus, der jeden Sinn für nicht-nutzbringende Aspekte eines künstlerischen Werkes verlernt hat? Ich weiß es nicht. Vielleicht hat es mit nichts von alledem zu tun, vielleicht mit allem.

    Sorry, ist ein bisschen lang und verschwurbelt geworden.

    Thomas

  15. Herles hat nichts anderes gemacht als Scheck mit „Druckfrisch“ tut oder auch Mangold/Fried und Heidenreich vorher. Die Ent-Literarisierung der Literaturkritik zu Gunsten abhakbarer autobiographischer Details ist längst in Radio und Fernsehen Usus. Auch viele Feuilletons in den Zeitungen werden davon beherrscht: Es gibt fast immer nur eine Mischung aus Inhaltsangabe und Mitteilungen über den Autor. In vorauseilender Entmündigung des potentiellen Lesers finden kaum noch „Zumutungen“ statt, weil man irgendwie eine bestimmte Quote bzw. Leserschaft erreichen möchte.

    1. katrin

      Der „Druckfrisch“-Vergleich ist natürlich völlig richtig, allerdings finde ich Scheck weitaus inspirierter in diesen Dingen. Und zudem nimmt man ihm das nicht nur ab, sondern macht er halt auch jeden Schmarrn mit, ohne um eine diffuse Seriosität zu fürchten. Ich erinnere mich da an eine Ausgabe, als er auf einer Radrennbahn o.ä. mit einem Radl seine Runden drehte. Man stelle sich mal Herles in einer solchen Situation vor …

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