Von unten nach oben
Von unten nach oben

Von unten nach oben

Es wäre gelogen, wollte ich behaupten, dass der Ärger mit jenem Autor nichts an meinem Schreiben geändert hätte. Fakt ist: Seither schreibe ich irgendwie schizophrener. Während ich so denke und notiere, sitzt auf meiner Schulter die andauernde Furcht vor der Wiederholung eines solchen Falls, die jeden Satz nach Stellen scannt, über die sich wer auch immer warum auch immer beschweren könnte. Allerdings fallen dieser Furcht die Einschätzungen ziemlich schwer, weil sie einerseits keine Ahnung von der Juristerei hat und andererseits begriffen hat, dass allein die Drohung mit dem Gesetz genügt, damit jemand ein Recht bekommt, das ein Gericht ihm wohl kaum je zugestanden hätte. Was nicht bedeutet, dass man sein eigenes Handeln nicht dennoch ordentlich abklopft, ob es auch wirklich – um´s ganz altmodisch zu sagen – reinen Gewissens und aufrechter Moral ist.

Nun habe ich gerade den neuesten Blog-Artikel von Georg Seeßlen gelesen, der ein weiteres Mal die ‚Opfer‘-Perspektive stark macht. Was ich sehr ernst nehme, denn meine journalistische (ich habe Seeßlen nie persönlich kennen gelernt) Hochschätzung von Georg Seeßlen ist so gut wie grenzenlos. Dieser Autor steht bei mir fast auf derselben Stufe wie Adorno: gebildet, klug, inspiriert, präzise und politisch – das sind meiner Meinung nach die Merkmale eines guten Textes, und dadurch haben sich die Seeßlen-Texte, die ich kenne, immer ausgezeichnet. Das ist blinde Verehrung, genau. Insofern nehme ich mir die Worte, die er in seinem Blog-Artikel über Kritik sagt, durchaus zu Herzen. Seeßlen schreibt (natürlich unter anderem):

Wenn ein „mächtigeres“ Medium ein Produkt eines weniger mächtigen Mediums oder weniger mächtige Autoren kritisiert, dann bedeutet das auch eine mal mehr mal weniger empfindliche ökonomische Einbuße. Jeder Kritiker muss wissen, dass er mit seiner Kritik dem Kritisierten Schaden zufügt. Deswegen verlangen wir, eigentlich, von Kritikern einige besondere Eigenschaften: Handwerkliche Sauberkeit, moralische Reflexion und ein politisches Bewusstsein. Denn jede Kritik ist auch eine politische Geste, ein Austausch von Macht. Der Verriss ist eine wunderschöne, wenn auch etwas bösartige Kunst, doch wer die Geschichte der großen Verrisse studiert, wird feststellen, wie genau man sich dabei nicht nur die Waffen, sondern auch den Gegner anschauen muss. Der gute Verriss geht von unten nach oben, der Zensurenverriss natürlich in umgekehrter Richtung: Setzen, fünf! Der gute Verriss ist eine treffende Frechheit gegen ein unterdrückendes System, der schlechte, nun eben, der Hieb des Systems gegen seine Kritik.

Mir geht es weniger um die erste Hälfte des Abschnitts, da dessen erster Satz, soweit ich weiß, faktisch nicht ganz richtig ist (ob gut oder schlecht ist für den Verkauf relativ gleichgültig: gekauft wird, was in den Medien vorkommt oder in den Buchhandlungen in Stapeln präsentiert wird; bei unbekannten Büchern ist eine schlechte Kritik sogar besser für den Verkauf, will eine Studie herausgefunden haben), und die folgenden Sätze ungefähr dem entsprechen, was mein Ressortleiter mir antwortete, als ich meiner Entrüstung über den eingangs erwähnten Fall Ausdruck verlieh.

Mir geht es vielmehr um die Oben-Unten-Klassifizierung. Die erklärt zumindest meine Allergie gegen jene pädagogischen Rezensionen, die keine Argumente vorbringen, sondern Tadel austeilen. Und sie erklärt in der Umkehrung, warum man mit Kleinverlagen und Debütanten vielleicht etwas ‚gnädiger‘ ist als mit Random House und Martin Walser. Allerdings frage ich mich schon immer, ob das richtig ist: Sollten solche extra-literarischen Kategorien wirklich eine Rolle spielen in einer Literaturkritik? Muss man zu prekären Existenzen ‚netter‘ sein als zu gesättigten? Ich glaube, bei mir ist das so. Aber bislang fand ich das eigentlich immer falsch; ich hielt mich quasi für korrumpiert von meiner grundsätzlichen Sympathie vor allem für Idealisten (weniger für Anfänger); ich weiß auch nicht, ob dieser Vertrauensvorschuss den Autoren und Verlagen gegenüber wirklich fair ist, da die ewige Betitelung als „Kleinverlag“ auch bedeuten kann, dass der derart Bezeichnete gar nicht erst als echte Konkurrenz wahrgenommen wird.

Dass Seeßlen diese diffuse Sympathie zur Haltung erhebt, verschafft mir die Erleichterung der Erkenntnis: Wovor es mich immer gegraust hat, weil ich es ebenfalls für unseriös hielt, war das Betreiben von Literaturpolitik – und nun muss ich wohl endlich mal einsehen, dass man als Literaturkritiker immer schon Literaturpolitik betreibt, ob man will oder nicht, und sich also besser aktiv darum kümmern sollte. Vielleicht war das meinen Texten sogar früher klar als mir; die Verve und die polemische Dichte, ja, die aufrechte Wut meiner (wenigen) Verrisse sprechen jedenfalls dafür. Tatsächlich halte ich meine bösartigen Texte für mehr als bloße Selbstverteidigungen: Ich mag einfach nicht in einer Gesellschaft leben, in der Bücher, die von minderwertigen Rassen handeln, die Frauenfußball als behindert etikettieren, die dem Juden Adorno einen genetischen Mangel ans Bein binden, zu Bestsellern avancieren. Ich hoffe, das ist es, was Seeßlen mit „von unten nach oben“ meint. Andernfalls müsste ich dem Laien-Juristen auf meiner Schulter endgültig die Tastatur überlassen und wäre ich zudem das erste Mal anderer Meinung als Seeßlen. Und das kann ja eigentlich gar nicht sein.

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