Athen im September 2012
Athen im September 2012

Athen im September 2012

Anfang September dieses Jahres war ich fünf Tage in Athen, zum klassischen Sightseeing. Es war mein erster Aufenthalt dort, aber darüberschreiben musste ich doch auf jeden Fall. Man nehme mir die Naivität der Touristin bitte nicht übel. Hier ist jedenfalls das etwas längere Ergebnis:

Ich habe meine Schuhe schon aus vielen Gründen ausgezogen. Bislang jedoch noch nie zu meiner eigenen Sicherheit. Genau das empfiehlt allerdings das Schild am Fuße der in den Stein gehauenen Treppe, die auf den Areopag in Athen führt. Die millionen Menschen, die in vergangenen Jahrhunderten die steilen Stufen hinaufgestiegen sind, haben den Fels so glatt poliert, dass nur nackte Sohlen sicheren Halt bieten. Wie viele mögen wegen unpassenden Schuhwerks auf der rutschigen Treppe schon ausgeglitten sein, sich die Knie geschürft, ein Gelenk verstaucht oder gar einen Knochen gebrochen haben? Doch niemand, auch wir nicht, beherzigt den Rat im Angesicht des rohen Brockens, der von sich aus nichts über seine frühere Funktion verrät.

Bereits die Ursprungslegende des Areopags spricht vom Blutvergießen und vom Scheitern; der Gott Poseidon erlebt hier eine seiner vielen bitteren Niederlagen. Weil Poseidons Sohn die Tochter von Ares geschändet hat und deshalb vom durchweg blutrünstigen Kriegsgott ermordet wird, strengt der Herr mit dem Dreizack einen Gerichtsprozess an – und verliert. Fortan heißt der Hügel nach dem Sieger der Verhandlung: Areopag, zu Deutsch Ares-Hügel. Ebenfalls auf dem Areopag entscheidet in Aischylos´ Orestie Athene über die Klage der Erinnyen gegen Orest, der seine Mutter umgebracht hat, um deren Mord an seinem Vater, ihrem Ehemann, zu rächen. Erneut ein Freispruch.

Viele Jahrhunderte später, da liegt die Gerichtsgewalt bereits in der Hand der Bürger und findet an anderem Ort statt, steht der Apostel Paulus auf dem Areopag und predigt über den Monotheismus und die Auferstehung der Toten. Ziemlich seltsame Thesen in den Ohren vieler Athener, die ihn genüsslich verspotten. Andere drücken ihre Zweifel laut Bibel ein wenig höflicher aus: „Wir wollen dich darüber ein andermal weiter hören.“ Für den Missionar auf Europa-Tournee war der Ares-Hügel offensichtlich ein kaum weniger rutschiges Parkett als für die Touristen der Gegenwart.

Noch heute nennt sich das oberste Gericht Griechenlands „Areopag“, natürlich tagt es nicht mehr auf dem Felsen, auch die Blutgerichtsbarkeit fällt nicht mehr in seinen Aufgabenbereich. Und so steht der steinerne Hügel nun als Pedestal für Ich-und-die-Akropolis-Fotografien zur Verfügung, denn Athens Wahrzeichen hat man, ein paar hundert Meter Luftlinie, von hier aus bestens im Blick. Schon fragt eine junge Frau mit französischem Akzent „Could you please …“. Sie streckt uns eine Kamera entgegen, schmiegt sich an ihren Begleiter und setzt ein Lächeln auf, das nicht uns gilt, sondern den späteren Betrachtern dieses Bildes, darunter nicht zuletzt ihr eigenes zukünftiges Ich, das milde zurücklächeln wird in Erinnerung an diesen heißen, hellen Athener Tag. Im Hintergrund gerät ein anderes Motiv ins Visier: Eine Dame hascht hilfesuchend nach dem Arm ihres Begleiters, weil auch ihre Schuhsohlen auf dem Felsen nicht haften wollen. Für den Abstieg wählen viele die moderne Treppe aus Metall.

Allein, der Tritt auf dem vermeintlich festen Boden am Fuße des Areopags fühlt sich zwar rutschfester, aber dennoch nicht sicherer an, und so erhält das Phänomen endlich einen Namen. Ein Syntagma, eine Wortverbindung und stehende Wendung, die wir uns in den folgenden Tagen desöfteren gegenseitig bestätigen werden. „Athener Schwindel“, sagt F., „Athener Schwindel“, nicke ich. Der war, genau, schon kurz nach dem Aussteigen aus dem Flugzeug zu spüren, stellen wir so nachträglich wie einvernehmlich fest, aber man dachte ja, das habe mit dem Reisen zu tun. Hat es also nicht. Es mag an diesen ellenlangen Wörtern aus fremden und zugleich vertrauten Schriftzeichen liegen. Und an den Felsen, Säulen und Wänden, die stetig in den Himmel wachsen (ich kann nicht hochsehen, ohne nach hinten zu taumeln). Und an der historischen Bodenlosigkeit, die die Stadt nicht nur metaphorisch erzittern lässt. Das letzte Mal bebte die Erde für alle Athener spürbar im Juni dieses Jahres; kleinere Ausschläge verzeichnet die Richterskala quasi täglich im gesamten griechischen Raum. Südlich des Peloponnes stoßen die eurasische und die afrikanische Platte aneinander. Durch diesen Spalt ist, irgendwann in der Kreidezeit, wohl der Fels auf die Welt gekommen, auf dem rund 100 Millionen Jahre später die Obere Stadt, die Akropolis, errichtet wird.

An jedem Tag erklimmen von früh morgens an, dicht gedrängt wie in einem Historienfilm, bunt gewandete Leiber aus aller Herren Länder den Anstieg zu der Ansammlung aus losen und wieder zusammengefügten Steinen. In (fast) voller Pracht zu bewundern sind heute nurmehr die Zeugen aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert: die Propyläen und das Parthenon, der Nike-Tempel und das Erechtheion. Die Spuren der späteren Nutzung als byzantinischer, christlicher und islamischer Ort sowie der Zerstörung durch die Venezianer wurden im Dienste der Nation getilgt: Als Griechenland 1830 unabhängig wird, beginnt beinahe umgehend die Rekonstruktion der großen klassischen Zeit Athens; alles, was danach um- und hinzu gebaut wurde, wird niedergerissen.

Seither errichtet man die Antike neu, der Fachbegriff dafür lautet „Anastilosis“, „wieder aufstellen“. Am Ende sollen die Propyläen unversehrter in die Höhe ragen, als die Neuzeit sie je zu Gesicht bekam. Athener Schwindel!, denke ich – da erklingt hinter uns ein kehliger Laut. Mein Blick zurück fällt zwischen zwei gespreizte, schräg in der Luft paddelnde Schenkel, unter einen Rock, auf ein rotes Höschen, erst dann auf ein Gesicht, das mir jedoch nicht in Erinnerung bleibt – schon reicht ihr Begleiter seine Hand, um der Frau wieder auf die Beine zu helfen. Doch nicht nur der Tourist, auch der Archäologe verliert hier oben leicht den Boden unter den Füßen: Wollte man sich bis zum Ursprung der Zivilisation hinunter graben, bliebe am Ende nur ein Schutthaufen übrig.

Und auch die Rekonstruktion leidet an einem mehr als schmerzhaften Schönheitsfehler. Schon 1801 beginnt der Brite Thomas Bruce, 7. Earl of Elgin und damals britischer Botschafter in Konstantinopel, mit dem Abtransport des berühmten Parthenon-Frieses. Die Elgin Marbles gehören heute zu den großen Attraktionen des British Museum in London – während Athen nicht aufhört, auf die Rückgabe der Stücke zu pochen. Eine Forderung, die die Stadt mit der Errichtung des Akropolis-Museums, das im Jahr 2009 eröffnet, monumental untermauert. Das Gebäude steht auf Säulen, da in der Baugrube wie immer und überall in Athen die Historie zum Vorschein kam. Auf dem Vorplatz läuft man über Glasplatten, die den Boden durchsichtig auf die Geschichte machen. Athener Schwindel: Jeder Abgrund flüstert wie ein Versprechen, man möchte auf allen Geländern balancieren, um seine Worte zu verstehen. Keine Frage, dass wir uns abends für das Restaurant mit der weithin sichtbar angepriesenen „Roof Top“-Terrasse entscheiden. „Merkel strong for Greece“, sagt der Kellner zu uns, als wir unsere Nationalität zugeben. Wir verstehen nicht, was er uns damit bedeuten will.

Das schräg aufgesetzte Obergeschoß des Akropolis-Museums wiederholt das Parthenon in seiner Ausrichtung und seinen originalen Dimensionen. Wo Stücke als verloren gelten, sind die Wände leer. Was Elgin nach England brachte, wird in Abgüssen vorgestellt: zwei Drittel des erhaltenen Frieses sowie zahlreiche Metopen. Nur die eine der sechs Karyatiden, der zauberhaften Tänzerinnenfiguren des Erechtheion-Tempels, die Elgin ebenfalls nach Großbritannien verschiffte, wurde nicht rekonstruiert – eine kaum weniger sprechende Lücke. Gottfried Benn widmete den im Tanzschritt gefrorenen Mädchengestalten ein Gedicht, dessen Verse ich der britischen Karyatide gern ins Ohr flüstern möchte: „Entrücke dich dem Stein! Zerbirst/Die Höhle, die dich knechtet! Rausche/Doch in die Flur, verhöhne die Gesimse“. Was bleibt ihr anderes als die Flucht, da die Hoffnung, dass Europa jemals zurückzahlen wird, was Marmornes es Griechenland schuldet, wohl vergeblich ist.

Der frühere Bundespräsident Theodor Heuss nannte die Akropolis einen der drei Hügel – neben Golgatha und dem römischen Kapitol –, „von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat“. Die attische Demokratie – von Solon initiiert, von Kleisthenes reformiert, von dessen Neffen Perikles strategisch vollendet –, die auf der Akropolis ihre politische Ästhetik durchaus eitel präsentiert, war eine Antwort auf die sozialen Verwerfungen dieser Zeit. Zwei wichtige Säulen der neuen Staatsordnung sind der private Schuldenerlass und das Verbot der Versklavung (freilich nur der vollwertigen Bürger). In diesen Jahren setzt sich auch die Drachme als erste internationale Währung durch. Und zwar so erfolgreich, dass die Sinnlosigkeit, noch weitere Münzen mit der eingeprägten Eule ins prosperierende Athen zu tragen, wohl bereits im 4. Jahrhundert vor Christus durch den Komödiendichter Aristophanes sprichwörtlich wird. Dass die Sklaven, die das Silber für die Münzen in den Minen abbauen, diese Arbeit nicht überleben, fließt von vorneherein in die Human-Ressources-Berechnungen ein.

Knapp zweieinhalb Jahrtausende später hat sich die Bilanz ins grauenhafte Gegenteil verkehrt. Die 1830 erlangte Unabhängigkeit nützt dem Land nichts, denn es hat Schulden in Millionenhöhe. Die Macht der Gläubiger lässt nicht lange auf sich warten: Die Troika aus Frankreich, Russland und Großbritannien installiert eine Monarchie und schickt 1832 den gerade mal 17jährigen bayerischen Prinzen Otto nach Athen. Der hat, gleichsam als Re-Import, den Klassizismus, Manifestation deutscher Antiken-Verehrung, im Gepäck. 1836 legt er den Grundstein für sein Athener Schloss; der Entwurf stammt von Leo von Klenze, ausführender Architekt ist Friedrich von Gärtner. Vom Balkon dieses Gebäudes verkündet Otto zehn Jahre später seine Zustimmung zur konstitutionellen Monarchie. Seither heißt der Platz davor Syntagma-Platz, nach der auch für Athen markanten Verbindung von Demokratie und Aristokratie. 1934, zehn Jahre nach dem Ende der Monarchie, zieht das griechische Parlament in die ehemalige Königsresidenz. Vom Balkon aus sieht man heute keine jubelnden Volksmassen mehr, sondern höchstens protestierende. Der Begriff „Neokolonialismus“ ist angesichts der Troika aus IWF, EZB und EU-Kommission in vieler Munde.

Der Fußweg von der Akropolis zum Nationalmuseum im Norden der Stadt dauert etwa eine halbe Stunde. Kleine Grüppchen von Polizisten, die – nach ihrer Ausrüstung zu urteilen – auf alles vorbereitet sind, aber scherzen, als sei gerade der Feierabend angebrochen, stehen wie zufällig an allen zentralen Plätzen und Kreuzungen herum. Was sie nicht sehen oder nicht interessiert: die vier jungen Leute auf dem breit gepflasterten Weg zwischen Akademie und Universität, von denen sich einer gerade eine Spritze in die Ellenbeuge setzt. Plötzlich ist die Wahrnehmung geschärft, und ich sehe sie: die vielen zerstörten Körper, die auf den Bürgersteigen entlang pendeln, mit Einstichen in den Armen und dem merkwürdigen Hochmut des Heroins in den Augen.

Auf der einstigen Prachtstraße „Straße des 18. Oktober“, kurz „Patission“ genannt, sehen wir nicht nur verrottende Läden, sondern auch: einen Menschen, der auf dem Boden liegt, Gesicht und Oberkörper unter einer Decke verbirgt und stattdessen eine große offene Wunde an seinem Unterschenkel zur Schau stellt. Das blanke Fleisch bleckt uns entgegen. Und wir sehen: eine Menge junger Menschen aus einer Seitenstraße neben dem Polytechnio, der Technischen Universität, laufen. Einer der Verfolger zieht einem Flüchtenden einen Holzprügel über den Kopf, auch dessen Haut wird aufplatzen. Das ist Exarchia, das Athener Viertel, in dem in den vergangenen Jahrzehnten viel zu viele junge Menschen gestorben sind.

Im November 1973 besetzen Studenten das Polytechnio, um gegen die Militärjunta zu protestieren. Bereits am vierten Tag findet der Streik ein Ende: In den frühen Morgenstunden lässt die Regierung die städtische Beleuchtung löschen, das Tor mit einem Panzer niederwalzen und das Gebäude von Soldaten stürmen; die Rede ist von 24 Toten. 1985 nehmen landesweite Unruhen hier ihren Anfang, nachdem ein 15jähriger Junge von Polizisten durch einen Kopfschuss getötet wird. 23 Jahre später geschieht das gleiche noch einmal, ein 15jähriger Junge, erschossen von Polizisten, in der Folge brennende Autos, Banken und Geschäfte. Exarchia liegt tatsächlich ex archia, jenseits der Macht. Die Polizei betritt das Viertel nicht mehr, die einen sagen: aus Kalkül, die anderen: aus Angst. Stattdessen werden die Zugänge überwacht und Ein- und Ausgehende kontrolliert, sofern man das für nötig hält. Die alles überragende Akropolis, von hier aus ist sie nicht zu sehen.

1963 schreibt Martin Heidegger in einem Brief an Erich Kästner: „Oft ist mir, als sei dieses ganze Griechenland wie eine einzige seiner Inseln – es gibt keine Brücke dahin.“ Dieser Satz kommt mir in den Sinn, als der Airbus in einer Höhe von 20 Metern über der Landebahn des Münchner Flughafens noch einmal durchstartet. „To tight“, erklärt der Pilot in einer Durchsage, er spricht von einem anderen Flugzeug auf der Bahn, von einer „Routinesituation“, und setzt beim zweiten Versuch endlich auf festem Boden auf. Die Zeitungen berichten, dass die Gespräche zwischen der griechischen Regierung und Vertretern der Troika wegen der Demonstrationen vor dem Ministerium mit zwei Stunden Verspätung begonnen hätten. Vom Athener Schwindel kein Wort.

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