Standardsituationen der Internetkritikkritik
Standardsituationen der Internetkritikkritik

Standardsituationen der Internetkritikkritik

„Standardsituationen der Technologiekritik“ heißt der Essay von Kathrin Passig, in dem sie auf unmittelbar einleuchtende Weise darauf aufmerksam machte, dass die Reaktionen auf technische Neuerungen sich immer wieder verblüffend ähnlich sähen. Bei ihr steht zwar nicht der Buchdruck im Vordergrund, doch der hat sich längst zum Paradebeispiel dafür gemausert, dass Kritik an neu auftretenden Medien nie recht behält. Der übliche Mangel einer solchen Argumentation: Die vielen Techniken, die sich tatsächlich nicht durchgesetzt haben (obwohl oder weil sie kritisiert wurden, völlig egal), bleiben meist höflich unerwähnt. Aber darum soll er hier gar nicht gehen. Sondern um den Text „Als die Lesesucht die Menschen krank machte“, der am Freitag auf Welt Online erschien, Passigs Thesen zitiert und unter ähnlicher Zuhilfenahme historischer Zitate die Warnungen vor Onlinesucht mit den Warnungen vor der „Lesesucht“ im 18./19. Jahrhundert parallel zieht, um schließlich zu enden:

Doch es war nicht die Lesekultur, die verschwand, es war das dünkelhafte Genörgle, mit dem man ihr begegnete. Man geht wohl nicht zu weit damit, der Kritik an unseren Netzgewohnheiten dasselbe Schicksal vorauszusagen.

Wer einen Diskurs aus dem 18./19. Jahrhundert nicht als solchen begreifen kann, sondern als „dünkelhaftes Genörgle“ kennzeichnet, dessen Netzgewohnheiten nehme ich natürlich zu gerne unter die Lupe. Und, pardauz: Der Artikel widerspricht sich am eindrucksvollsten selbst, denn genau jene Copy-and-Paste-Verflachung, vor der übereifrige Kritiker einer übermäßigen Internetnutzung warnen, findet hier statt. Damit meine ich nicht die Bildbeschreibung am Anfang, sondern die restlichen knapp 7.000 Zeichen des Textes. Zuerst zitiert der Autor einen leidlich bekannten Absatz von Adam Bergk: „Die Folgen einer solchen geschmack- und gedankenlosen Lektüre sind also unsinnige Verschwendung, unüberwindliche Scheu vor jeder Anstrengung, grenzenloser Hang zum Luxus, Unterdrückung der Stimme des Gewissens, Lebensüberdruß und ein früher Tod.“ (dessen Fortsetzung ich hier aus gegebenem Anlass noch ergänzen möchte: „Der Mensch […] soll selbst denken, und viele haben nicht einmal eine Ahnung, daß es eine solche Pflicht für sie giebt.“) Und darauf folgt eine bloß rhetorisch aufgehübschte Zusammenfassung des Wikipedia-Artikels über „Lesesucht“ (unter besonderer Berücksichtigung der Thesen von Kathrin Passig, die immerhin ordentlich mit dem Hinweis auf die Quelle zitiert, jedoch nicht verlinkt werden).

 

Welt Wikipedia
Noch präziser fasste der Pädagoge Karl G. Bauer die verderblichen Konsequenzen des Buchgenusses: „Der Mangel aller körperlichen Bewegung beym Lesen, in Verbindung mit der so gewaltsamen Abwechslung von Vorstellungen und Empfindungen führt zu Schlaffheit, Verschleimungen, Blähungen und Verstopfung in den Eingeweiden, die bekanntermaaßen bey beyden, namentlich bey dem weiblichen Geschlecht, recht eigentlich auf die Geschlechtstheile wirkt.“ Der Leser als halb narkotisierter Onanist: Man möchte eher kein Buch zur Hand nehmen bei solchen Risiken und Nebenwirkungen.[„führt zu“ ist eine Erfindung des Welt-Autors; bei Bauer steht, zudem an anderer Stelle „erzeugt“] Karl G. Bauer stellte in seiner Schrift Über die Mittel dem Geschlechtstrieb eine unschädliche Richtung zu geben (1787) fest, dass die „erzwungene Lage und der Mangel aller körperlichen Bewegung beym Lesen, in Verbindung mit der so gewaltsamen Abwechslung von Vorstellungen und Empfindungen […] Schlaffheit, Verschleimung, Blähungen und Verstopfung in den Eingeweiden, mit einem Worte Hypochondrie, die bekanntermaaßen bey beyden, namentlich bey dem weiblichen Geschlecht, recht eigentlich auf die Geschlechtstheile wirkt, Stockungen und Verderbnis im Bluthe, reitzende Schärfen und Abspannung im Nervensysteme, Siechheit und Weichlichkeit im ganzen Körper“ erzeuge.
Der Begriff der „Lesesucht“ wurde, welche Ironie, zuerst von den Aufklärern im Munde geführt. Einer seiner frühesten Belege stammt aus dem Jahr 1773, und schon 1809 nahm es der Aufklärer Joachim Heinrich Campe in sein Wörterbuch auf: „Lesesucht, die Sucht, d. h. die unmäßige, ungeregelte und auf Kosten anderer nöthiger Beschäftigungen befriedigte Begierde zu lesen, sich durch Bücherlesen zu vergnügen.“ Einen sehr frühen Beleg dieses Wortes [Lesesucht] fand man in Rudolf Heinrich Zobels Briefen über die Erziehung der Frauenzimmer im Jahre 1773. Später wurde der Begriff fester Bestandteil aufklärerischer sowie gegenaufklärerischer Schriften. Joachim Heinrich Campe, ein wichtiger Vertreter der Aufklärungsbewegung, führte ihn schließlich im Jahre 1809 in sein Wörterbuch ein: „Lesesucht, die Sucht, d.h. die unmäßige, ungeregelte auf Kosten anderer nöthiger Beschäftigungen befriedigte Begierde zu lesen, sich durch Bücherlesen zu vergnügen.“
In der Tat war die Kulturtechnik der Romanlektüre etwas so umwälzend Neues, dass sie vielfach zu Verunsicherungen führte und sicher geglaubte Ordnungen auf den Kopf stellte. Sie ist eng verbunden mit Veränderungen, die sich in dieser Zeit im Bürgertum vollzogen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein verstand man dort unter „Lesen“ die wiederholte, oftmals laut deklamierende und intensive Lektüre meist religiöser Schriften, deren Gehalt man sich so gewissermaßen einverleiben wollte.An seine Stelle trat in dieser Umbruchsphase nun, was der Historiker Rolf Engelsing das „extensive Lesen“ nennt: der Hunger nach neuen Erzählstoffen, nach dem Versinken in fiktiven Welten, wie sie nur der Roman bietet. Aber nicht nur inhaltlich gab es enorme Veränderungen, es entwickelte sich auch die Art und Weise des Lesens. Eine klassische These von Rolf Engelsing war, dass sich ein Wandel vom bis weit ins 18. Jahrhundert vorherrschenden „intensiven“ zum „extensiven“ Lesen vollzog — eine „Leserevolution“, wie die moderne Forschung es nennt. […] Das „intensive“ Lesen beschreibt das intensive und wiederholte Lesen einer kleinen Auswahl an größtenteils religiösen Büchern, wie es bisher üblich war. An diese Stelle trat nun gegen Ende des 18. Jahrhunderts das „extensive“ Leseverhalten, das sich durch Begierde nach neuer, abwechslungsreicher Lektüre zur Information und vor allem zur privaten Unterhaltung stark vom alten Leseverhalten absetzte.
Wie extrem man diesen Wandel empfand, zeigt eine Wortmeldung des Publizisten Johann Georg Heinzmann aus dem Jahr 1795. „So lange die Welt stehet“, schrieb dieser, „sind keine Erscheinungen so merkwürdig gewesen als in Deutschland die Romanleserey, und in Frankreich die Revolution. Diese zwey Extreme sind ziemlich zugleich mit einander groß gewachsen, und es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass die Romane wohl eben so viel im Geheimen Menschen und Familien unglücklich gemacht haben, als es die so schreckbare französische Revolution öffentlich tut.“ [Motto des Abschnitts „Die Lesesucht-Debatte“]: „So lange die Welt stehet, sind keine Erscheinungen so merkwürdig gewesen als in Deutschland die Romanleserey, und in Frankreich die Revolution. Diese zwey Extreme sind ziemlich zugleich mit einander großgewachsen, und es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass die Romane wohl eben so viel im Geheimen Menschen und Familien unglücklich gemacht haben, als es die so schreckbare französische Revolution öffentlich thut. “ – Johann Georg Heinzemann: 1795
„Ein Buch lesen, um bloß die Zeit zu tödten“, schäumte Johann Adam Bergk im frühen 19. Jahrhundert, sei „Hochverrath an der Menschheit, weil man ein Mittel erniedrigt, das zur Erreichung höherer Zwecke bestimmt ist.“ Noch weiter ging Campe: Übermäßiges Lesen, schrieb dieser, rufe Gleichgültigkeit gegenüber allem hervor, was nicht mit dem Lesen zu tun habe. Man vernachlässige den Haushalt, kümmere sich nicht um die Kinder.Campe war immerhin Hauslehrer der Humboldt-Brüder, Verleger und Erfinder der Massenproduktion von Büchern. Man werde furchtbar träge, assistierte der Philosoph Friedrich Eduard Beneke und halluzinierte frohgemut, das Gedächtnis gleiche dem Magen: Übermäßiges Lesen könne nicht mehr verdaut werden, ein überfülltes Gedächtnis führe ebenso zu Krankheiten wie ein chronisch überfüllter Bauch. „Ein Buch lesen, um bloß die Zeit zu tödten, ist Hochverrath an der Menschheit, weil man ein Mittel erniedrigt, das zur Erreichung höherer Zwecke bestimmt ist.“ – Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen. Die zentrale Kritik liegt laut Campe in der Motivation des Lesens, nämlich aus „Begierde […] sich durch das Büchlein zu vergnügen.“ Campe, der leidenschaftlich gerne Schriften gegen die Vielleserei verfasste, schrieb in einem Aufsatz, dass übermäßiges Lesen Gleichgültigkeit gegenüber allem hervorrufe, was nicht mit dem Lesen zu tun habe: Man vernachlässige Tätigkeiten im Haushalt, die Aufmerksamkeit für die Kinder gehe abhanden und auch körperlich würde man geschwächt sein. […] Bei Beneken, der sich der Fachbegriffe der Diätetik und medizinischer Begriffe bediente, heißt es, das Gedächtnis gleiche dem Magen. Das übermäßige Lesen könne nicht mehr gut verdaut werden, ein überfülltes Gedächtnis führe zu ebenso vielen Krankheiten wie ein überfüllter Magen.[…] Des Weiteren diagnostiziert er [Beneken] „unüberwindliche Trägkeit, Eckel und Widerwillen gegen jede reelle Arbeit […] ewige Zerstreuung und unaufhörliche Ratlosigkeit der Seele, die nie eine Wahrheit ganz fassen, nie einen Gedanken ganz fest halten kann.“
Bei aller Sorge um die Lesesüchtigen wurden dann doch bemerkenswert wenige Rezepte dagegen vorgeschlagen. Der schlichtweg reaktionären Empfehlung von Karl Philipp Moritz, doch zurückzukehren zum wiederholten Lesen der immer selben Schriften wie einst, hielt der Pädagoge Johann Bernhard Basedow seine immerhin konstruktivere Idee entgegen, eine Enzyklopädie für Leser einzuführen. So könne man das zügellose Lesen eindämmen. Trotz der vielen Kritik gab es kaum ernstzunehmende Therapieansätze bzw. Lösungsvorschläge. Karl Phillip Moritz reflektierte lediglich darüber, wie es wohl wäre, wieder weniger, aber dafür wiederholt dieselben Bücher zu lesen. Der Pädagoge Basedow formuliert einen etwas konkreteren Ansatz. Er ist der Meinung, man müsse eine Enzyklopädie für Leser einführen. Dadurch würde das zügellose Bücherlesen bei der Jugend vermindert werden, die moralisch schädlichen Bücher würden weniger gelesen werden und Eltern oder Erzieher hätten eine Richtlinie, nach der sie die Wahl der Bücher für die Kinder treffen könnten.

 

Ich habe nichts gegen die Wikipedia, darum geht es nicht. Auch ich ‚klaue‘ da manche bibliografische Idee (um dann, dem Internet sei Dank, bei Googlebooks weiterzulesen und womöglich noch etwas Schöneres oder Merkwürdigeres zu entdecken). In diesem Fall aber stammt tatsächlich jedes Zitat bis auf das erste von Bergk und der legendäre Apfelmus-Satz von Weizenbaum aus der Wikipedia; teils sind sogar Formulierungen jenseits der Zitate und semantische Strukturen übernommen. Da nörgle ich dann doch sehr gerne ein wenig dünkelhaft herum und äußere meine Bedenken über die extensive Intensiv-Internetnutzung mancher Zeitgenossen (ihnen und nicht dem Netz, wie der Autor meint, gilt zumindest mein „tonnenschwer mit Sorgen befrachteter Blick“). Dass ich vermutlich niemals bereit sein werde, für solch einen „Content“ zu zahlen, versteht sich wohl von selbst.

12 Kommentare

  1. Klaus

    „Die vielen Techniken, die sich tatsächlich nicht durchgesetzt haben (obwohl oder weil sie kritisiert wurden, völlig egal), bleiben meist höflich unerwähnt.“
    .
    Das erscheint mir ein wichtiger Punkt.
    Das ist nicht „Höflichkeit“, das ist, als wenn ein Pharmaunternehmen nur ein paar positive Tests veröffentlicht und die (vielen) nagativen unterschlägt; das wäre: kriminell.

    1. katrin

      Mir erscheint das auch wichtig – deshalb wollte ich diesen Punkt ja unbedingt loswerden, obwohl er nicht unbedingt in den Text passt 🙂 Wobei es an Passigs Thesen ja nichts änderte, wenn auch auf andere Neuerungen so reagiert würde. Bloß dieses: „Seht ihr, die haben mal wieder nicht Recht behalten!“ könnte man dann evtl. nicht mehr halten.

  2. A.P.

    @Katrin bzgl. „unterlegene Innovation“:

    Mich würde interessieren, inwiefern die Betrachtung von Innovationen, die sich nicht durchsetzen konnten, für die Gültigkeit/Tragweite der Kritik von Kultur-/Technikpessimismus relevant sind?

    Überspitzt formuliert: Technik/Kulturpessimismus behauptet, dass eine neue Innovation, die sich „massenhaft“, „schnell“ durchsetzt und Dinge/Verhältnisse „grundlegend“ umgestaltet, mehr oder weniger direkt in den Untergang führt: Früher war alles besser, die Jugend wird verdorben usw.

    Die Kritik an einer solchen Sichtweise sagt nun, das stimmt nicht – und bringt dafür eben als Argument häufig eine Reihe vergangener (erfolgreicher) Innovationen, die anfänglich kritisch beäugt wurden – die wir aber heute als nützlich und wertvoll betrachten. Das fängt bei der Schrift an, geht über Handschrift vs. Buchdruck, Lesesucht, Zeitungssucht, Telefon, Kino, Fernsehen bis heute zu Computer(spiel) und Internet. Wobei sich die Kulturkritik ganz unterschiedlich mal auf Techniken/Technologien (Buch an sich), mal auf Inhalte (Schundromane vs. Hochliteratur), mal auf Nutzungsweisen (Lesesucht vs. maßvolles Lesen) beziehen.

    Nun zurück zu meiner Frage: Inwiefern denkst Du, ist für diese Debatte die Betrachtung erfolgloser Techniken/Medien relevant? Bspw. gab es ja neben der Schaltplatte (Vinyl, früher Schellack) noch eine Reihe weiterer Techniken: Wachswalzen, magnetisierte Drahtspulen usw. usf.

    Ich sehe nicht, inwiefern das für die vorliegende Debatte wichtig wäre. Die Debatte dreht sich ja nicht um Techniken, Innovationen oder die „Durchsetzungfähigkeit“ von Erfindungen, sondern um die Folgen von Technik(en) und ihrer Nutzung für die Gesellschaft.

    Ein kurze Klärung würde mich interessieren…

    1. katrin

      Wie oben schon gesagt: Mein Einwand ändert nichts an der Richtigkeit von Kathrins Zusammenstellung „typischer“ Reaktionen auf neue Technologien. Ich halte nur den Umkehrschluss (den viele unternehmen, hier etwa DIE WELT), dass jede solche Reaktion prinzipiell Unrecht hat, für falsch. Oder anders: Man sollte nicht jede Kritik (deren Funktion ja ohnehin weder die Prognose über die Durchsetzungskraft neuer Technologien noch der Wunsch nach deren Abschaffung ist) als Kulturpessimismus abtun. Oder nochmal anders gesagt: Friedrich Kittler ist gerade kein Kulturpessimist, aber durchaus ein Kritiker neuer Technologien, ohne dass er irgendwie daran gedacht hätte, diese verhindern oder gar abschaffen zu wollen.

      Klingt das irgendwie verständlich?

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