Am kommenden Wochenende können sich die Münchner Bürger für oder gegen eine dritte Startbahn aussprechen. So lautet zumindest die übliche Zusammenfassung der anstehenden Wahl. De facto ist die Angelegenheit um einiges komplexer: Tatsächlich dürfen wir darüber abstimmen, ob die Stadt ihre Möglichkeiten als Gesellschafterin der Flughafen München GmbH dafür nutzt, sich für oder gegen eine dritte Startbahn auszusprechen. Zudem hat man nicht nur ein Kreuz, sondern derer drei: Erstens kann man dafür oder dagegen stimmen, dass die Stadt den Plänen zustimmt. Zweitens kann man dafür oder dagegen stimmen, dass die Stadt den Plänen nicht zustimmt. Und drittens muss man eine der beiden Entscheidungen favorisieren, falls beide Bürgerentscheide mehrheitlich mit Ja oder mit Nein beantwortet werden. Man könnte also durchaus den Eindruck gewinnen, hier ginge es weniger um direkte Demokratie als vielmehr um direkte Bürokratie.
Doch das ist nicht mein eigentliches Problem. Mein eigentliches Problem ist: Meine Entscheidung – ich werde gegen die dritte Startbahn stimmen – geschieht mehr aus Gefühl denn aus echtem Wissen. Ich kann schlichtweg nicht einschätzen, ob diese Zunahme an Arbeitsplätzen, die die Flughafen GmbH selbstredend verspricht, wirklich eintreten wird und wie wichtig das für München wäre. Und so treffe ich die Wahl vor allem aus dem Bauch heraus, anhand meiner persönlichen Meinung, dass bereits jetzt zu viel geflogen wird bzw. zwei Startbahnen eigentlich genügen sollten; anhand meines Missfallens über die Tatsache, dass die Anwohner des Flughafens keine Stimme bei dieser Wahl haben; und anhand der Rhetorik, die die Startbahn-Befürworter an den Tag legen (von den sieben Argumenten meinen fünf im Grunde dasselbe, nämlich die Sicherung des sog. Wirtschaftsstandorts, und mit diesem Argument hat man in der Vergangenheit leider schon allerhand Schmarrn durchgesetzt), und anhand der Menschen, die ihr Gesicht für die eine oder andere Seite in die Kamera halten. Allerdings erscheinen mir all diese Argumente nicht unbedingt geeignet, um meiner staatsbürgerlichen Pflicht wirklich sinnvoll nachzukommen.
Nun kann ich in Startbahn-Angelegenheiten noch gut damit leben, dass die meisten Menschen allererst im eigenen, privaten Interesse handeln und nicht das große gesellschaftliche Ganze im Blick haben. Jedoch ist die Münchner Bürgerinitiative nicht die einzige, die gerade von sich reden macht. Und die beiden Beispiele, die nun folgen, bestärken mich in meinem Zweifel an der direkten und meiner Vorliebe für die repräsentative Demokratie leider ein weiteres Mal. Da ist einmal der kleine Ort Insel, in dem zwei Männer leben, die wegen mehrfacher Vergewaltigung im Gefängnis saßen und nun resozialisiert werden sollen. Doch ein Gutteil der Bürger, allen voran ihr Bürgermeister von der CDU (den ich deshalb für politisch absolut ungeeignet halte), fordert per Bürgerinitiative die Entfernung der beiden Männer aus Insel, und schlägt dabei deutlich über die Stränge, weshalb die beiden Männer zwischenzeitlich unter Polizeischutz stehen.
Zum Anderen ist da der Stadtteil Wahren in Leipzig, in dem 70 Asylbewerber angesiedelt werden sollen, damit sie endlich nicht mehr in der bisherigen menschenunwürdigen Gemeinschaftsunterkunft leben müssen (i.e. damit ihnen endlich nicht mehr die Kakerlaken nachts in die Ohren krabbeln). Die Wahrener Anwohner wollen nicht, dass „die“ bald auch hier leben und protestieren deswegen öffentlich dagegen. „Unser Anliegen ist auf jeden Fall“, erklärte eine Sprecherin, „keine Gemeinschaftsunterkünfte in Wohngebieten anzusiedeln“, und erhielt dafür den spontanen Applaus der Umstehenden. Dass man auch in Gemeinschaftsunterkünften nichts anderes tut als wohnen und eine solche Unterkunft deshalb ganz hervorragend in ein Wohngebiet passt, wird mit diesem Satz also in Abrede gestellt. „Wohnen“ kann und darf in Leipzig-Wahren offenbar nur, wer die richtigen genetischen Merkmale aufweist. Wie weit solche „Bürgerinitiativen“ manchmal gehen, darüber können die Roma in Osteuropa eine Menge erzählen; zumindest diejenigen, die die regelmäßigen Pogrome, die sich ebenfalls den Willen der Volksmehrheit ans Revers heften, überleben.
Man muss also gar nicht für die repräsentative Demokratie eine Lanze brechen, sondern für die Demokratie als solche, die eben nicht allein die Herrschaft der Mehrheit meint (damit macht man es sich definitiv zu einfach), sondern auch – womöglich bald ihre wichtigere Funktion – den Schutz der Minderheiten vor dieser Mehrheit. Und das kann nur die repräsentative Demokratie. Denn, in den Worten von Otfried Höffe, „eine Demokratie, die selbst für die grundlegenden Menschenrechte Mehrheiten zulässt, verletzt ihre Legitimität.“ Dass nämlich die NPD gerne überall mitmischt, wenn „das Volk“ sich seines Unbewussten mittels Bürgerinitiativen entledigen will, ist kein Zufall und auch keine Trittbrettfahrerei und keine Unterwanderung, wie es einige Zeitungen darstellen. Im Gegenteil: Da haben sich schlicht und einfach Menschen mit demselben (meiner Meinung nach: anti-demokratischen) Anliegen gesucht und gefunden. Mir macht das Angst.
Darf ich fragen, ob Deine Entscheidungen innerhalb der repräsentativen Demokratie, also bei Wahlen, genauso „mehr aus Gefühl denn aus echtem Wissen“ entstehen? Kannst Du bei Deiner Wahl voraussehen, ob der von Dir favorisierte Politiker sich so verhalten wird, wie Du das von ihm erwartest? Also ich werde von Exponenten in der repräsentativen Demokratie regelmässig enttäuscht. Direktdemokratische Vorlagen dagegen entscheiden konkrete Sachfragen endgültig, wo vorher endlos Streit war: Stuttgart21 ist ein gutes Beispiel.
Die Angst, dass die Mehrheit Menschenunwürdiges beschliesst, ist, wenn man zum Beispiel die Geschichte der Schweiz anschaut, relativ klein. Meistens beschliessen Minderheiten, oft gewählte Repräsentanten des Volkes, Menschenunwürdiges. Während im europäischen Umland Kriege wüteten, gab es in der Schweiz seit 1847 keinen Krieg mehr. Dafür ist im Land seit mehreren Jahrzehnten Direkte Demokratie konkreter Alltag. Und wenn mal einer kommt und Unterschriften sammeln will für die Todesstrafe, dann findet er keine 100.000 Leute dafür:
http://www.direktedemokratie.com/2010/08/24/die-demokratische-todesstrafe/
Die Angst vor der Diktatur der Mehrheit ist in Wahrheit die Angst vor der Demokratie. Ich finde: die Minderheiten sind gut geschützt, sogar in der direktdemokratischen Schweiz.
Klar darfst Du das fragen 🙂 Entscheidungen bei Wahlen zur Volksvertretern beruhen meiner Meinung nach meist auf einer längerfristigen Beobachtung der Parteien oder der Personen, deren Entscheidungen ich dann auch akzeptieren muss (selbst wenn sie mir nicht jedes Mal passen). Ich wähle ja einen Vertreter, den ich für fähig halte, die konkreten Entscheidungen an meiner Statt zu treffen. Dass auch ich eine Menge Entscheidungen von ‚denen da oben‘ für falsch halte, ist klar; wem das nicht so geht, der hat vermutlich jedes Interesse an Politik verloren.
Den konkreten Alltag der direkten Demokratie in der Schweiz kenne ich nicht aus eigener Erfahrung; ich weiß auch nicht, ob sich das so einfach vergleichen lässt, eben weil Deutschland eine ganz andere Vergangenheit hat und weltpolitisch nunmal eine tragendere Rolle hat.
Was man darüber erfährt, schürt allerdings nicht unbedingt meine Sympathien. Ich weiß, dass wir da verschiedener Meinung sind, aber ich benenne meine gerne noch einmal: In dem Minarett-Entscheid ging es nicht um städtebauliche Fragen, sondern um die sichtbare Präsenz von Andersgläubigen. Dass man darüber abstimmen kann, finde ich an sich schon fraglich. Und das Ergebnis war wahrlich nicht dazu angetan, mir meine oben benannte Angst zu nehmen, im Gegenteil.
In dem Interview geht es genau um den von Höffe schon benannten Widerspruch (der in der Demokratie eigentlich keiner sein darf) zwischen Bürgerwillen und Menschenrechten: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1080625/