Als gäbe es nichts anderes
Als gäbe es nichts anderes

Als gäbe es nichts anderes

[Da ich ziemlich unglücklich darüber bin, wie dieser Text nach der redaktionellen Bearbeitung aussah, gibt es ihn hier in meiner originalen Version, die zweifellos nicht perfekt, aber meiner Meinung nach besser ist als das, was auf Papier erschienen ist.]

Als gäbe es nichts anderes! Mit diesen Worten bekundete die Übersetzerin Indra Wussow in einem Interview ihre Verwunderung darüber, dass allererst afrikanische Autoren mit weißer Hautfarbe auf dem deutschen Buchmarkt reüssieren. Weil der Widerspruch zwischen dem angeblichen hiesigen Publikumsgeschmack und der literarischen Wirklichkeit des gerne als „dunkel“ geschmähten Kontinents ihr zunehmend merkwürdig erschien, begann Wussow vor zwei Jahren, die Reihe AfrikAWunderhorn herauszugeben.

Denn natürlich gibt es anderes. Den Roman „Unter den Augen des Löwen“ von Maaza Mengiste zum Beispiel, das jüngste Buch in der Wunderhorn-Reihe. Mengiste lebt, das verbindet sie mit vielen ihrer Kolleginnen aus Nigeria, Kenia oder Sierra Leone, nicht mehr dort, wo sie geboren wurde. Als sie vier Jahre alt war, verließ die Familie Äthiopien. Das war 1975, ein Jahr nachdem der Kaiser Haile Selassi gestürzt worden war und das Militär die Macht übernommen hatte. Im August des Jahres starb Selassi unter, wie es so diffus und dennoch unmissverständlich heißt, „ungeklärten Umständen“; die gängige Theorie besagt, dass er im Arrest mit einem Kopfkissen erstickt wurde. Da hatte der Umbau zu einem repressiven, kommunistischen Regime gerade erst begonnen.

Von dieser höllischen Zeit, als Leichen auf den Straßen einen gewohnten Anblick darstellten und noch im privatesten Winkel der Verrat lauerte, erzählt der Roman „Unter den Augen des Löwen“. Der Löwe, das äthiopische Wappentier, fand sich bis zur erzwungenen Abdankung Selassis auf der Landesfahne, der Kaiser selbst bezeichnete sich als „Löwe“ und hielt sich in seinem Palast mehrere zahme Exemplare dieser Gattung. Nicht zuletzt die Aufnahmen von deren reichhaltiger Fütterung befeuerten den von Studenten getragenen Aufstand, der sich im Namen einer hungernden Nation gegen den Patriarchen wandte und in die Herrschaft der Militärjunta mündete – gegen die sich im Untergrund bald der Widerstand formierte.

Ins Zentrum stellt Maaza Mengiste eine Familie: den Krankenhaus-Arzt Hailu, dessen erwachsene Söhne Dawit und Yonas sowie Yonas´ Frau Sara. Nicht nur diese Namen, auch die Geschichte zehrt von einer alttestamentarischen Wucht: Jeder wird im Angesicht der politischen Ereignisse irgendwann gezwungen, eine Entscheidung zu treffen, und jede davon läuft im Grunde auf dieselbe Frage zu: Wie viel meines privaten Glücks bin ich bereit zu riskieren, um Gerechtigkeit zu erlangen? Von jedem wird diese Frage anders beantwortet, doch keine der Antworten birgt eine helle Zukunft in sich. Es wird nicht besser, es wird immer schlimmer, und vor allem wird es niemals wieder gut. „Man ist verloren, während man noch ruft: ‚Ich bin gerettet!‘“, schrieb Joseph Conrad, Erfinder der Rede vom „Herz der Finsternis“, im Februar 1899 in einem Brief.

Ähnlich nahe am zehnten nördlichen Breitengrad, jedoch 8.000 Kilometer weiter östlich liegt Free Town, Hauptstadt von Sierra Leone und Handlungsort des Romans „Ein Lied aus der Vergangenheit“ der 1964 in Glasgow geborenen, in Sierra Leone aufgewachsenen Schriftstellerin Aminatta Forna. Trotz der geografischen Entfernung klingt er beinahe wie eine Fortsetzung von Menigstes „Unter den Augen des Löwen“. Forna schreibt über die Nachwirkungen eines Bürgerkriegs, der zeitlich sehr viel näher liegt als der äthiopische: Erst 2002 wurde er offiziell für beendet erklärt, erst 2010 wurden die letzten Blauhelme aus Sierra Leone abgezogen. In dieses kaum verheilte Land kommt – als „Expat“, also zeitlich befristete, ausländische Fachkraft – der britische Psychologe Adrian, um die unsichtbaren Wunden in Augenschein zu nehmen, wenn möglich sogar zu behandeln. Unfreiwillig, aber erfreut über die Gesellschaft teilt er seine Wohnung mit dem Chirurgen Kai, der keinen Schlaf mehr findet, weil in Sierra Leone Gliedmaßen schneller abgehackt wurden (das galt als „Markenzeichen“ der Revolutionary United Front), als er sie retten kann. Der eine will nicht mehr zurück nach England, der andere nur noch weg. Weil die Historie in den Familien weiterwirkt und fürchterliche Früchte trägt, brechen hier wie dort Genealogien auseinander. Wer den Krieg überlebt hat, hat den Krieg noch lange nicht überlebt.

„Wer war ich zu glauben, Kunst könne irgendjemanden in Lagos retten?“: So lautet die Erkenntnis des Ich-Erzählers in „Die Gesetzlosen“, einer von elf „Stories“ aus dem Band „Hagel auf Zamfara“ von Sefi Atta, die 1964 in Lagos geboren wurde und heute in Mississippi lebt. „Der Bürgerkrieg lag Jahrzehnte zurück, und Nigeria war jetzt eine Nation, geeint im Chaos“, und deshalb verwandelt sich die studentische Theatergruppe in eine Einbrecherbande, die jede Nacht in einem anderen gut situierten Haushalt das Drama der fiesen Kerls aufführt, zuhause aber keiner Kakerlake etwas zuleide tun kann, denn „die versuchen auch nur zu überleben, genau wie wir“. Unüberhörbar, wie schon bei Aminatta Forna und in jedem der hier genannten Bücher, die Kritik am postkolonialen Rassismus, der sich am Leid Afrikas delektiert und bereichert, Souveränität und Bildung höchstens verwundert zur Kenntnis nimmt und in den USA kaum anders klingt als in Nigeria. Ähnlich deutlich kommen die andauernde sexuelle Gewalt und sexuelle Diskriminierung zu Wort, deren begehrteste Opfer schon immer die dunkelhäutigen Frauen waren.

„Jumping Monkey Hill“ heißt eine Erzählung aus dem Band „Heimsuchungen“ von Chimamanda Ngozi Adichie, die 1977 in Enugu geboren wurde und heute teils in Nigeria, teils in den USA lebt. Den Titel darf man – Adichie scheut die böszüngigen Pointen genauso wenig wie Atta – durchaus zynisch verstehen, denn in dem südafrikanischen Urlaubsresort dieses Namens will ein britischer Literaturprofessor die Puppen für sich tanzen lassen: Eine Handvoll afrikanischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller hat er zum Workshop geladen, um die Frauen mit obszönen Zoten zu traktieren – und sie für unbegabt zu erklären, falls sie darüber nicht lachen können. Eine kanzelt er ab, sie schreibe „keine richtige Erzählung mit richtigen Menschen“, einer anderen wirft er vor, „homosexuelle Geschichten dieser Art spiegelten nun wirklich nicht Afrika wider“. Noch immer liegt die Definitionshoheit über die Literatur und das Verständnis von Wahrheit und Fiktion nicht in den eigenen Händen. Schon gar nicht, wenn es sich um weibliche Hände handelt.

Dass auch jede Übersetzung von Romanen afrikanischer Autorinnen die Frage nach dem kolonialistischen Gestus der ‚Eindeutschung‘ aufwirft, reflektiert am eindrücklichsten „Eine nächtliche Führung“ von Philo Ikonya, die 1959 unweit von Nairobi geboren wurde und aktuell in einem unsicheren Exil in Oslo lebt. Helmuth A. Niederle schreibt in seinem Nachwort, er habe seine Übersetzung nicht für den „westlichen bzw. nördlichen Leser zurechtgeschnitten und geputzt“ und die Ecken und Kanten belassen. Das geht allerdings klar auf Kosten der Lesbarkeit, weshalb man Ikonyas feministischen Furor und die intellektuelle wie atmosphärische Dichte der Geschichte über die Journalistin Rika, die durch Hauptstadtnächte streift, um den kenianischen Prostituierten endlich Gehör zu verschaffen, manchmal mehr erahnt, statt derer habhaft zu werden. Auch kann man den österreichischen Akzent der Fassung kaum überhören; die Frage, wie ein anti-kolonialistisches Übersetzen aussehen könnte, bleibt mithin weiter unbeantwortet.

Und womöglich wird sie irgendwann einfach nicht mehr gestellt werden, denn tatsächlich wächst die Welt, wie man so sagt, mit jedem Tag schneller zusammen, und deshalb lichtet sich der Schatten, den Europa über Afrika geworfen hat und der den „westlichen bzw. nördlichen“ Blick weiterhin zu vernebeln scheint, langsam, aber unübersehbar. Zu verdanken ist das Herausgeberinnen wie Indra Wussow und Verlagen wie Das Wunderhorn und Peter Hammer. Vor allem aber Autorinnen wie Maaza Mengiste, Aminatta Forna, Sefi Atta, Chimamanda Ngozi Adichie und Philo Ikonya, die luzide, mitleidslos und mit einem untrüglichen Wissen um die existenzielle Notwendigkeit des Menschlichen eine Literatur von globaler Bedeutung schaffen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Und das ist, welch Glück, erst der Anfang.

 

Maaza Mengiste: Unter den Augen des Löwen. Das Wunderhorn, Heidelberg 2012. 318 Seiten, 24,80 Euro

Aminatta Forna: Ein Lied aus der Vergangenheit. DVA, München 2012. 654 Seiten, 24,99 Euro

Sefi Atta: Hagel auf Zamfara. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2012. 380 Seiten, 22 Euro

Chimamanda Ngozi Adichie: Heimsuchungen. S. Fischer, Frankfurt 2012. 302 Seiten, 19,99 Euro

Philo Ikonya: Eine nächtliche Führung. Löcker Verlag, Wien 2012. 280 Seiten, 19,80 Euro

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