Im Jahr 1895 werden in Berlin und Paris die ersten Kinematografen vorgestellt, etwa zur selben Zeit erfindet Sigmund Freud in Wien das Wort „Psychoanalyse“, und in London sitzt der irische Schriftsteller Abraham Stoker an dem Roman, der ihn unsterblich machen wird, „Dracula“ erscheint 1897. Dass die Geschichte vom blutsaugenden Grafen so berühmt wurde, verdankt sie nicht zuletzt dem Kino. Auf der Leinwand machten sich die Untoten stets besonders gut, war dort doch ohnehin nie etwas anderes zu sehen als seltsam von ihrer Leiblichkeit erlöste Körper.
Derart wohl fühlten sich die Blutsauger in den bewegten Bildern, dass man fast meinen konnte, der moderne Mythos sei für die Literatur verloren. Falsch gedacht, denn gerade meldet er sich lautstark zurück zu Wort. Bei Viktor Pelewin zum Beispiel: Der russische Schriftsteller, den man hierzulande erst mit seinem dritten Buch „Generation P“, einer grotesken Persiflage auf die Konsumgesellschaft, richtig wahrgenommen hat, legt nach seiner Minotaurus-Umschrift „Der Schreckenshelm“ (2005) und dem „Heiligen Buch der Werwölfe“ (2006) nun einen Vampirroman vor, „Das fünfte Imperium“.
Die Initiation von dessen Hauptfigur aktualisiert keine wehenden Vor- und Umhänge, sondern den medialen Grusel als solchen. Der 19-jährige Roma Storkin streift gedankenverloren durch die Stadt, als er einen Schriftzug auf dem Bürgersteig bemerkt: „Nutzen Sie die Chance zum Eintritt in die Elite! 22.06. 18.40-18.55 Uhr Garantiert einmalig!“ Datum passt, Uhrzeit passt, und weil Roma gerade eh nichts Besseres zu tun hat, folgt er dem nebenstehenden Pfeil. Nur wenig später ist er an eine Sprossenwand gefesselt und hat ein komisches Gefühl, nämlich eine Vampirs-Zunge, im Mund.
Zwei Lehrer, Baldur und Jehova, unterrichten Roma in der Folge über die beiden wesentlichen Künste des Vampirs, über Glamour und Diskurs. Denn per Glamour und Diskurs sorgen die Blutsauger dafür, dass die Menschen an nichts anderes als an Geld denken. Dann nämlich funkt der so genannte „Geist B“ (des Menschen Sehnsucht nach Bedeutung) das Geld im Aggregatzustand M5 direkt an die Vampire, die daraus ihr Bablos destillieren (oder so ähnlich . Vom Blut jedenfalls ist man weitgehend abgekommen, das taugt nurmehr zum Gedankenlesen). Dass das humane Melkvieh von all dem nichts ahnt, verdankt sich dem „Schwarzen Rauschen“, einem von den Vampiren geschaffenen „Informationshintergrund von solcher Dichte, dass die Wahrheit darin unmöglich zu entdecken ist“. Wenn schon untot, dann aber richtig, ist Pelewins Devise: All die wilden Kombinationen zahlloser Versatzstücke der Kulturgeschichte zur ganz großen und ziemlich wasserdichten Verschwörungstheorie machen den buchstäblichen Heidenspaß, für den Vampirromane schon immer gut waren.
Doch ach, oh weh, nicht nur die signifikantenlustige Gott-ist-tot-Postmoderne hat die wörtlichen Untoten für sich entdeckt, sondern auch das jenseitshörige Christentum. Und feiert damit erschröckliche Erfolge: Eben ist der vierte Band der Teenie-Saga „Twilight“ der amerikanischen Mormonin Stephenie Meyer in Deutschland erschienen und führte sofort die Bestseller-Listen an. Was die Ego-Shooter für die Jungs, sind diese Romane für die Mädchen von Heute: reichlich simpel gestrickte Erfolgsgeschichten geschlechtlicher Medien-Identität. Oder mit Pelewin gesagt: die perfekte Mischung aus Glamour und Diskurs. Auf der Glamour-Ebene geht es um ewige Liebe, Schönheit, Reichtum, Freiheit, Bildung, Willensstärke und so weiter. Ein durch Mauerblümchen-Attitüde verhinderter schöner Schwan namens Bella Swan verliebt sich in den überirdisch attraktiven Vampir Edward Cullen. Das schafft ein paar Probleme, die am Ende und per Unsterblichkeit gelöst werden.
Sex gibt es erst in diesem letzten Band und auch da nur als verschwiegene Leerzeilen. Das erste Mal hat – da Bella noch nicht ebenfalls Vampir ist – eine Menge blauer Flecken sowie eine umgehende Schwangerschaft zur Folge. Mit der Geburt des Kindes geht auch ihre Initiation einher, Mutter- und Unsterblichwerden sind bei Meyer ein und dasselbe. Nun muss Bella nur noch lernen, ihr besonderes Talent (jeder Vampir hat so eins!) zu kontrollieren. In ihrem Falle ist das – wie konnt‘ es anders sein – die Verhütung fremden Eindringens; die Autorin nennt das nur ein bisschen anders, nämlich „Schutzschild“. Selbst das Gut-gegen-Böse-Prinzip wird im „Bis(s)“-Epos privatisiert, es kämpfen nicht Bürger gegen Aristokraten wie in „Dracula“, sondern Edwards Vampire gegen die italienischen Volturi, eine patriarchalische Vampir-Clique in bester Vatikan-Manier. Um das Konzept „Familie“ gegen den machtfixierten „Zirkel“ zu verteidigen, verbünden sich die Cullens sogar mit den Werwölfen, die – von Meyer durchgehend mit jüdischen Namen versehen – zwar für ihre Loyalität geschätzt werden, aber leider, leider keinen freien Willen haben. So viel zum Diskurs dieses Buches.
Dass die Domestizierung der Sexualität im Namen der Religion nur auf den ersten Blick derart nahtlos funktioniert, wissen wir spätestens seit Freud. Auch in der „Bis(s)“-Serie sind die sprachlichen Verwerfungen in der literarischen Schmonzetten-Ödnis unüberlesbar. „Merkte er nicht, dass Erregung durch meinen Körper strömte wie ein Adrenalinstoß?“ denkt Bella. Wer so konsequent körperliche Ursache und gefühlige Wirkung verwechselt, dem kann nur noch von Pelewin geholfen werden. Dessen Vampire sind der Missionarin Meyer in jedem Fall zu größtem Dank verpflichtet: So viel Schwarzes Rauschen hat schon lange kein Autor mehr produziert, das Bablos dürfte den Hirnen junger Frauen folglich in Strömen entfließen. Und das ist tatsächlich mehr als gruselig.
Viktor Pelewin: Das Fünfte Imperium. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Luchterhand, München 2009. 399 S., 10 Euro.
Stephenie Meyer: Bis(s) ans Ende der Nacht. Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister. Carlsen, Hamburg 2009. 793 S., 24,90 Euro.
Erschienen in: Berliner Zeitung, 16.4.2009