Am Anfang des Romans „8 ½ Millionen“ des englischen Autors Tom McCarthy (Originaltitel: „Remainder“) war der Unfall. Das hat durchaus Tradition in der Moderne, davon erzählt die Literatur seit der Industrialisierung gerne. Weil ein Unfall eben ein Un-Fall ist: ein Moment, in dem sich die Umstände unglücklich verketten und der Mensch der technischen Materie zumeist hilflos ausgeliefert ist. Man sei eben zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, heißt es dann. Oder gar: Schicksal!
Wie die meisten Opfer eines solchen Ereignisses kann sich auch McCarthys Ich-Erzähler kaum daran erinnern: „Über den Unfall kann ich wenig sagen. Fast nichts. Etwas fiel vom Himmel, damit hatte es zu tun. Technologie. Teile, Bruchstücke. Und das ist auch schon alles“. Und weil das alles ist, akzeptiert er natürlich den Vergleich, der ihm angeboten wird: Er bekommt 8,5 Millionen Pfund und hat als Gegenleistung über die Vorkommnisse zu schweigen.
Da er am Kopf verletzt wurde, muss er vieles neu lernen, neu anordnen in seinem Gehirn. Das gelingt zwar – allerdings empfindet er sich seither als „formatiert“ und „second-hand“, er hat „das Gefühl, alle meine Handlungen seien Duplikate, unnatürlich, erworben“. Nach einem Déjà-Vu auf einer Party, das ihm als das ersehnte unmittelbare Erleben erscheint, beschließt er, diese Vision en detail nachzuspielen.
Also kauft er ein Haus und installiert dort mehrere Menschen, die auf seinen Befehl hin Klavier spielen, Müll vor die Tür stellen, Leber braten, im Hinterhof ein Motorrad reparieren. Und zwar immer und immer wieder. So lange, bis er als Regisseur dieses Authentizitätstheaters endlich das Gefühl hat, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Und dieses Gefühl macht ihn süchtig: Immer mehr Situationen kommen hinzu, die nach seinen äußerst exakten Vorgaben und ohne Unterlass, teils vor Ort, teils in Kulissen, wiederholt werden, selbst dann, wenn er nicht anwesend ist. „Es war Arbeit – sehr viel Arbeit“, erklärt der Ich-Erzähler, der mittlerweile eine ganze Infrakstruktur von Angestellten mit seinen Inszenierungen beschäftigt. Geld dafür hat er ja genug.
So nüchtern, mit der Selbstverständlichkeit des unbeteiligten Beobachters dieser Roman geschrieben ist, so ausnehmend spannend, da im besten Sinne verrückt ist „8 ½ Millionen“. Denn die Nachspiele handeln bald nicht mehr nur von kleinen Missgeschicken oder von Tönen und Gerüchen vergangener Zeiten, sondern von Gewalt und Mord, von Schießereien und Banküberfällen. Die Realität rückt stetig näher, die Sehnsucht des durch den unerinnerbaren Unfall Traumatisierten nach „dem Punkt, an dem Nachspiel und Ereignis eins würden“, wächst ein ums andere Mal. Und erfüllt sich schließlich, am Ende wird alles Wirklichkeit: ein Showdown, der freilich ebenfalls ewig wiederholt werden will.
Tom McCarthy: 8 ½ Millionen. Aus dem Englischen von Astrid Sommer. Diaphanes Verlag, Berlin/Zürich 2009. 302 Seiten, 19,90 Euro.