Über „Silbermann“ von Jacques de Lacretelle
Über „Silbermann“ von Jacques de Lacretelle

Über „Silbermann“ von Jacques de Lacretelle

Mit Vorsicht und einem die Leser einschließenden „Wir“ nähern sich die Übersetzer Irène Kuhn und Ralf Stamm in ihrem Nachwort zu dem Roman Silbermann von Jacques de Lacretelle der Frage nach den Gründen des Antisemitismus. „Wir wären, wohl nicht nur aus Bequemlichkeit, dankbar, wenn uns jemand in kurzen Worten erklären könnte, warum die Juden 2000 Jahre lang verfolgt wurden – fast überall. Diese kurze Erklärung gibt es nicht, kann es nicht geben.“ Und doch wird das Kind beim Namen genannt, da der Hinweis auf die 2000 Jahre den Ursprung wenigstens des christlichen Antisemitismus recht genau markiert: Seit Jesus ans Kreuz genagelt wurde, wirft man den Juden mehr oder weniger ausdrücklich vor, dass sie den Messias auf dem Gewissen haben.

Jacques de Lacretelle wurde ein Jahr vor dem späteren „Führer“ der Deutschen geboren. Als er Silbermann schrieb, ahnte er wohl genauso wenig wie jeder andere, wo diese Führung enden würde. 1922 wurde der Roman in Frankreich publiziert, zwei Jahre später erstmals ins Deutsche übersetzt und dann vergessen, vor allem hierzulande – bis 2011, da der Lilienfeld Verlag ihn noch einmal in neuer Übersetzung und galanter Ausstattung präsentiert. Silbermann erzählt die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei fünfzehnjährigen Schülern, kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Die Beziehung der beiden währt nur ein Jahr, weil der eine, David Silbermann, anschließend in die USA auswandert, da er die zahlreichen, andauernden und brutaler werdenden antisemitischen Anfeindungen seiner Mitschüler nicht mehr ertragen will. Über zehn Seiten erstreckt sich sein Abschiedsmonolog, der von den Verletzungen zeugt, die man seinem Stolz zugefügt hat. „Hör gut zu, was ich dir jetzt sage“, wirft Silbermann endlich dem Ich-Erzähler ins Gesicht: „Das Wort vom auserwählten Volk, das ist nicht etwa ein Hirngespinst aus Prophetenmund, das ist eine ethnologische Wahrheit, mit der ihr euch abfinden müsst.“

Bemerkenswerter als Lacretelles Unbedarftheit hinsichtlich der Klischees, für die man heute, nach der Shoah, selbstredend hellhöriger ist als man damals war, ist ohnehin, wie der Autor die Freundschaft der beiden Jugendlichen begründet. In den Augen des Erzählers erscheint Silbermann von Anfang an als Messias, der zwar nicht Wasser in Wein verwandelt, aber doch die Verwirklichung der Buchstaben begeht: Als Silbermann im Unterricht Verse aus Jean Racines Drama Iphigenie vorträgt, ist der Ich-Erzähler „wie von einer plötzlichen Erleuchtung getroffen … diese Worte nahmen in meinem Geist zum ersten Mal Gestalt an und wurden zu einem Bild.“ Und so beschließt dieser Junge die Apotheose des David Silbermann, beschließt er, „mich ganz seinem Glück zu widmen, um durch dieses Opfer die Angriffe des Bösgesinnten zu sühnen“. In dieser Rolle des Jüngers gefällt er sich so sehr, dass er nur zu gerne alles opfert, um seiner „Sendung“ gerecht zu werden: „Und ich, während ich so an seiner Seite schritt, in die Schande verstrickt, ich labte mich an meinem köstlichen Gefühl. ‚Ich opfere ihm alles‘, sagte ich mir, ‚die Zuneigung meiner Freunde, den Gehorsam gegenüber meinen Eltern und selbst meine Ehre.‘ Ich rief mir diese Opfer vor Augen, und ein gewaltiger Atem schwellte meine Brust“.

Vielleicht mit einer Ahnung im Herzen, jedoch ohne es zu wissen, zeichnet Lacretelle hier sehr genau, wie nahe Anti- und Philosemitismus manchmal beieinander liegen: Wenigstens die deutschen Leser dürfte die Rhetorik bekannt vorkommen, denn genau mit denselben Vokabeln von Ehre, Opfer und Gehorsam stattete das „Dritte Reich“ die eigene Ideologie aus. Womit Lacretelle auch gleich noch einen Hinweis auf die subkutanen Beziehungen zwischen Christentum und Nationalsozialismus liefert. Selbst die „Stunde Null“ scheint in dieser Erzählung bereits literarisch reflektiert: Nachdem Silbermann das Land verlassen hat, ist alles wie zuvor; die Eltern schließen den verlorenen Sohn wieder in die Arme, die Zeit mit Silbermann wird einfach verdrängt. Nicht einmal die Karikatur des früheren Freundes erregt noch den Ärger des Erzählers, statt Epiphanie herrscht wieder bloße Mimesis: „Wirklich sehr ähnlich“, lautet sein trockener Kommentar über die Zeichnung.

 

Jacques de Lacretelle: Silbermann. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Irène Kuhn und Ralf Stamm. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2011. Lilienfeldiana Band 10. 184 Seiten, € 19,90.

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