Erschienen in der Berliner Zeitung
Der Mann am Schreibtisch ist ehrlich entrüstet. „Werden Sie nicht vulgär! Wir sind doch nicht im Mittelalter!“, entgegnet er seinem Gegenüber, das sich – nicht ganz zufällig, schließlich befinden wir uns im Vorzimmer der Hölle – vorsichtig nach Feuersbrünsten, Vierteilung und siedendem Öl erkundigt. Alles antiquierter Blödsinn, wie der unterweltliche Beamte erklärt, denn auch die Hölle gehe mit der Zeit, „und jede Zeit hat die Hölle, die zu ihr passt. Im Moment ist es eine Bibliothek.“ Nicht-Lesen sei zwar keine Todsünde, doch ein Zusammenhang bestehe zweifellos: Hätten die Höllenbewohner mehr gelesen, wäre ihnen weniger Zeit fürs Verbrechen geblieben. Eine Erkenntnis, die sich allein dem digitalen Zeitalter verdanke: „Es ist noch niemand in die Hölle gekommen, weil er nicht gelesen hat. Das ist auch der Grund, warum wir dieses Phänomen übersehen haben, bis zur Einführung des Computers. Als wir die Verbindung, dank ihm, erkannten, konnten wir sie uns zunutze machen. Und zwar in mehrerlei Hinsicht. Man könnte sogar sagen, dass eine echte Reform der Hölle daraus hervorgegangen ist.“ Fantastische Statistik!
Oder besser: statistische Fantastik! Denn von der Verkehrung und Verdrehung von Kausalitäten und Normalitäten, von Fiktion und Wirklichkeit handelt nicht nur die Erzählung „Die Höllenbibliothek“, sondern handeln auch die übrigen fünf des Bandes „Die Bibliothek“, für den der serbische Autor Zoran Živkovic bereits im Jahr 2003 den World Fantasy Award erhielt: von einer Webseite, die in die Zukunft des Schriftstellers blickt, aber nur ein einziges Mal aufgerufen werden kann; von der Gesamtausgabe der Weltliteratur, die allererst ein logistisches Problem darstellt; von einer Bibliothek, in der man im eigenen Leben schmökern kann; von einem Buch, das jedes Mal, wenn man es öffnet, einen anderen nie geschriebenen Roman enthält; und schließlich von einem Buch, das „Die Bibliothek“ heißt, sechs Geschichten – nämlich jene fünf genannten sowie die eben stattfindende – enthält und mit den üblichen Methoden (Zerstückeln, Ertränken, vom Hochhaus Stürzen) einfach nicht tot zu kriegen ist.
Was freilich ein Glück darstellt, denn sonst wäre dieses Werk jetzt nicht endlich auch nach Deutschland gelangt. Zusammen mit vier anderen Erzählbänden des 1948 geborenen Živkovic hat der DuMont Verlag es nun nach britischem Vorbild gemeinsam in ein Buch von fast 500 Seiten gepackt und mit der Überschrift Der unmögliche Roman versehen. Wobei „Erzählbände“ nicht ganz der richtige Ausdruck ist. Denn Živkovic fädelt nicht einfach ein paar bunte Perlen seiner Produktion auf, sondern baut stattdessen regelrechte Zyklen. Keine Erzählung kann ohne die andere, stets sind alle so heillos ineinander verstrickt, dass die Realität außerhalb nurmehr als vage Vision am Rande aufscheint. „Zeitgeschenke“ zum Beispiel: vier Geschichten, von denen drei von Zeitreisen erzählen – bis die vierte dies alles und sich selbst gleich mit als Werk eines Schriftstellers, als bloße Fiktion enttarnt. Oder „Unmögliche Begegnungen“: fünf Geschichten über unmögliche Begegnungen – mit dem eigenen Ich, mit Gott oder mit einem Außerirdischen – plus eine sechste, in der eine literarische Figur an der Tür des Autors klopft, um ihm bei der Vollendung seines Buches „Unmögliche Begegnungen“ zu helfen, dem es ja noch an der sechsten Erzählung mangle.
Solche Reihen baut Živkovic in jedem Band, nur um dann doch wieder aus derselben zu tanzen, so dass in diesem Spiegelkabinett bald keiner mehr weiß, wo oben und unten, was wirklich und was erfunden ist. Vor allem der Ton dieser fortgesetzten Schilderung des gleichsam bürokratischen Umgangs mit dem Unglaublichen: Živkovic – und mit ihm seine deutschen Übersetzerinnen Margit Jugo und Astrid Philippsen – beherrscht es einfach, dem Kleinbürger wie der Malerin, dem Nerd wie dem Bibliophilen eine je eigene Stimme zu verleihen, die ihre je eigene Geschichte von Gedankenspiralen und Ordnungsobsessionen erzählt. Auch klar: Der unglaubliche Roman ist beileibe kein Roman, beschert aber allen Borges-Eco-Lem-Verdammten zweifellos den Himmel auf Erden.
Zoran Živkovic: Der unmögliche Roman. Aus dem Serbischen von Margit Jugo und Astrid Philippsen. DuMont, Köln 2011. 480 Seiten, 24,99 Euro.