Kritiken 2011: „Die Schmerzmacherin“ von Marlene Streeruwitz
Kritiken 2011: „Die Schmerzmacherin“ von Marlene Streeruwitz

Kritiken 2011: „Die Schmerzmacherin“ von Marlene Streeruwitz

Erschienen in Der Freitag No. 40, 6. Oktober 2011

Keines der zahllosen Kommata, sondern ein Gedankenstrich gilt als berühmteste Interpunktion in Heinrich von Kleists Erzählung „Die Marquise von O…“. Dieser Gedankenstrich markiert die Ohnmacht der titelgebenden adeligen Dame – aus der sie als Schwangere erwacht. Statt allerdings metaphysische Gründe für die unbewusste Empfängnis ins Feld zu führen, gibt die Marquise lieber (man schreibt das Jahr 1800) eine Zeitungsannonce auf: Der Verursacher jener anderen Umstände, in die sie ohne ihr Wissen geraten sei, möge sich doch bitte bei ihr melden. So geschieht es, und happy end.

Auf nicht minder verstörende Weise zerlegt fast genau 200 Jahre später die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz den patriarchalen Mythos. Nach einer ordentlichen bürgerlichen Kleinfamilie, wie sie Kleist ins Recht setzte, kann man in ihrem neuen Roman Die Schmerzmacherin. – der Titel gemahnt an den Beinamen „die Schmerzensreiche“ der Heiligen Mutter Maria – lange suchen. Vater Staat tritt, wenn überhaupt, nur in der Josefsrolle auf: als impotenter Haushaltsvorstand, der sich selbst entmachtet hat.
Amalie Schreiber, Streeruwitz´ Protagonistin, ist ein uneheliches Kind wie schon ihre Mutter eines war. Zwar ziert ein berühmter Künstler den Stammbaum, doch die Drogensucht der leiblichen „Betsimammi“ und das Aufwachsen bei protestantischen Pflegeeltern infizieren Amalies Lebenslauf weiterhin. „Sie war die Schmutzige. Immer war sie die Schmutzige gewesen.“ Nachdem sie ihr BWL-Studium abgebrochen hat und als Model über ein paar Laufstege getrappelt ist, wird sie von ihrer Tante, „der Marina“, die das Erbe verwaltet, zur Ausbildung bei der „Allsecura“ gedrängt. Eine international operierende private Sicherheitsfirma, moderne Partisanen, mit entsprechend perfiden „mentalen Trainingseinheiten“ – „Sie musste immer die Schwachstelle spielen“ – und Psychobürokratismen. „Es ging ja nicht darum, den Job zu machen. Es ging immer nur darum, wer, und wann, zum Verrat fähig sein könnte“: Jedes Zucken des Mundwinkels hat die vorwurfsvolle Frage zur Folge, was es da zu lachen gebe; und wenn Mentor Gregory ihren Widerstand spürt, genügt der Hinweis, „sie solle nicht vergessen, dass sie sich verpflichtet habe“.

Dass die Welt nicht gewillt ist, das Dasein dieser Frau wahrzunehmen, erfährt man gleich zu Beginn. Amalies Auto steuert gleichsam alleine zum stets nur „compound“ genannten Trainingsgelände der Allsecura; ein Raubvogel am Straßenrand ignoriert ihr Auftauchen einfach, wendet sich sogar ab. „Sie lebte gar nicht. Wahrscheinlich lebte sie gar nicht. Sie tat nur so. Sie machte das nach. Faking, dachte sie. You are faking. Es war das Autofahren, das existierte. Sie war der Schatten davon.“ So gerät auch die Zeit der In-Existenten, die von den einen Amy, von anderen Emily, dann wieder Mali genannt wird, an dem surrealen Unort irgendwo im Niemandsland der bayerisch-tschechischen Grenze, an dem die Sprache sich aus Wörtern wie „workplace security“ und „correction officer exam“ zusammensetzt, in eine merkwürdige Schleife. Das erste Kapitel des Romans heißt „Dezember“, das zweite auch, das dritte ebenfalls. Jedoch fehlt zwischen dem ersten und dem zweiten, die beide denselben Monat meinen, ein Tag, dessen Geschehnisse Amy nicht erinnern kann – aber erahnen muss, als sie einen Monat später einen Abgang erleidet. Da ist sie wieder, die Vergewaltigung, die schon Kleist als wirksamste Kriegstechnik erkannte. Statt jedoch eine Zeitungsannonce aufzugeben, nimmt Amy die Biologie beim Wort und schickt Proben der Fehlgeburt, die sie wie ein Jesuskindlein in eine Seifenschalen-Krippe bettet, ins DNS-Labor.

Wo Kleist das Gebälk knirschen lässt, indem er schier endlose syntaktische Ketten baut, da schält Marlene Streeruwitz die Sätze bis aufs Subjekt-Prädikat-Objekt-Konstrukt oder zerhackt sie in ihre Einzelteile. Lässt das Verb weg, um das bloße Vorhandensein ins Licht zu rücken, oder bricht ab, auf dass die Wortläufe sich selbst vervollständigen: „Das graue Blau aus den Tälern. Stieg auf. Der Himmel dunkelviolettblau. Der Widerschein der Sonne orangefleckig auf den Wolken. Noch lange. Während längst schon die Nacht.“ Das ist der typisch punktierte Sound dieser Autorin, mit Die Schmerzmacherin. aber scheint er wieder einmal seinen Gegenstand gefunden zu haben. In den sprachlichen Skeletten erklingt etwas Archaisches, manchmal beinahe Animalisches, das Marlene Streeruwitz stark macht gegen die vermeintlich unverrückbaren Gesellschaftsordnungen der Sprache. Oder andersherum: Nur indem Amy ihr Allsecura-Prüfungswissen gleichsam bewusstlos aufsagt, wird sie sich am Ende eben davon lossagen können. Und Väter, ja, Väter sind dann keine mehr übrig.

Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 399 Seiten, 19,95 Euro.

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