Die Forderung, dass es mehr Verrisse in der Literaturkritik geben sollte, ist nicht neu – und ich habe mich da stets recht gerne angeschlossen, da auch meiner Meinung nach viel zu viel gelobhudelt (oder „lobgehudelt“?) wird, und oft versteht der Leser nicht einmal den Grund dafür, da der sich irgendwo hinter den Adjektiven „lakonisch“, eindringlich“ und „unverbraucht“ versteckt. Seit heute bin ich mir allerdings nicht mehr so sicher, ob es tatsächlich mehr ‚schlechte‘ Kritiken braucht, denn eben habe ich das Negativ der Lobhudelei entdeckt. Nämlich den gleichermaßen bodenlosen Verriss von Clemens Setz´ neuem Romans „Indigo“ auf Spiegel Online.
Dessen Autor Sebastian Hammelehle beginnt mit ein paar verdrehten Gedanken über das Wort „Mumpitz“. Das ist natürlich ein arg konstruierter Einstieg und verrät auch das Urteil des Rezensenten bereits am Anfang – was ich aber beides absolut in Ordnung finde. Was dagegen nicht in Ordnung ist, ist der Rest des Artikels. Als er endlich bei dem Roman selbst angelangt ist, schreibt Hammelehle:
„Indigo“ erzählt die Geschichte einer Krankheit. Diese Krankheit ist in unserer realen Welt nicht bekannt. In der Welt des Romans hingegen ist sie ein medial begleiteter Skandal, trifft sie doch die jüngsten, die schwächsten Glieder der Gesellschaft. Die Kinder. Name der Krankheit: Indigo.
Und das ist schon der erste Fehler. Denn „Indigo-Kinder“ ist durchaus ein Begriff aus unserer Gegenwart (es gibt sogar einen Wikipedia-Eintrag), der allerdings keine Krankheit bezeichnet, sondern angeblich spirituell besonders begabte Kinder benennt, erkennbar an ihrer blauen Aura. Dass ich diese Indigo-Kinder für völligen Eso-Quatsch halte, ist klar; und ich traue mich zu behaupten, Setz geht das ähnlich, sonst würde er diese Krankheit ja nicht auf deren Erfinder zurückwerfen: Es sind die Angehörigen der Kinder, die daran leiden (sie bekommen Kopfschmerzen, wenn sie sich nähern), und gerade nicht die Kinder selbst.
Da Hammelehle aus diesem seinem Unwissen jedoch kein Urteil über das Buch ableitet, finde ich das nicht weiter verwerflich, denn wir alle haben irgendwo Lücken. (Ich kenne dieses Indigo-Zeugs auch nur mehr oder weniger zufällig, weil ich mal über braune Esoterik recherchiert habe.) Worauf aber gründet er dann sein „Mumpitz!“-Urteil? Sehen wir weiter. In dem Indigo-Internat
tritt auch ein junger Mathematiklehrer seinen Dienst an. Sein Name: Setz. Er ist einer der Protagonisten dieses Buches.
Der Autor, der zufällig genauso heißt wie der Mathelehrer, führt seine Leser mit verschiedenen Erzählern, einer Vielzahl in den Text eingestreuten Verweisen und Fotos, mit scheinbar historischem Material, das beweisen soll, die Krankheit Indigo sei bereits uralt, und mit typografischen Spielereien (Fraktur, Schreibmaschinenschrift, Handlettering) in ein buntscheckig ausgekleidetes Vexierkabinett.
Was ich erst einmal spannend fände – wenn in einem Roman eine Figur auftritt, die des Autors Namen trägt, obwohl es zweifellos nicht um eine Autobiografie geht – findet Hammelehle offensichtlich irgendwie doof, das signalisiert sein ironisches „zufällig genauso heißt“. Warum er das doof findet? Keine Ahnung. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass er sich mit der Unterminierung der Grenze zwischen Fiktion und Realität ohnehin schwertut? Schließlich sollen die „in den Text eingestreuten Verweisen und Fotos, mit scheinbar historischem Material“ keinesfalls „beweisen, die Krankheit Indigo sei bereits uralt“, sondern im Gegenteil auf die Gemachtheit von Wissenschaft hinweisen. Würde ich zumindest denken.
In der Folge lässt Hammelehle erahnen, dass Setz´ Roman seiner Meinung nach zu viel krude Details enthält. Auch da würde ich wieder sagen: erst einmal interessant – aber auf jeden Fall kein literaturkritisches Argument, sondern Geschmackssache. Das scheint Hammelehle auch geahnt zu haben, denn nun verlässt er die Pfade des Faktischen:
Fehlt noch was? Ja, Menschenfleischrezepte, Freimaurerei, aber auch der Einsatz von Marilyn-Manson-Songs in Guantanamo kommen nicht vor – fast schon eine Produktenttäuschung.
Und das ist nun wirklich ein No-Go: Irgendwas Dummes zu erfinden, was angeblich auch noch dazu passte, ist eine unseriöse Unterstellung und sonst gar nix.
Dann endlich taucht, wir sind schon fast am Schluss des Artikels angelangt, etwas auf, das wenigstens von Ferne Ähnlichkeit mit einer Argumentation hat:
Er baut ein Romanuniversum, in dem der Effekt ausschlagebendes [sic] Konstruktionsmerkmal ist. Die Stimmung der fast 500 Seiten umfassenden Geschichte steuert er dabei mit fortschreitender Dauer derart herunter, dass zuletzt das Gefühl vorherrscht, es mit einem Plot in völlig blut- und sauerstoffarmer Atmosphäre zu tun haben.
Was Hammelehle also offensichtlich stört, ist die Künstlichkeit (Effekt als ausschlaggebendes Konstruktionsmerkmal), der Mangel sowohl an „Stimmung“ (heruntergesteuert) als auch an echtem Leben („blut- und sauerstoffarme Atmosphäre“). Und das wundert mich dann doch. Denn in der Literatur geht es nunmal um Kunst, um Konstruktion und um Buchstaben. Mit Letzteren scheint Hammelehle tatsächlich wenig anfangen zu können, folgt man seiner Rezension von Ulf Erdmann Zieglers „Nichts Weißes“, deren Pointe lautet, „dass es für den großen deutschen Roman nicht vieler Buchstaben bedarf“. Na dann.
Ich wundere mich – mit Verlaub – über die doch sehr krude, teilweise auch schnellsprechende Vorverurteilung. Wie kann ein literarisches Werk so ungestüm und freiwerdend verspielt werden? Ist es nicht genau dieser wabernde Sprachcocktail, der zu Lesendes lesenswert macht?