Wie aus einer Pandemie und einer Vision ein Format wurde
Normalerweise mischt sich ein Moderator nicht ein. Tat er dann aber doch. Normalerweise wäre das Wort „Krise“ wohl nicht aufgetaucht in der Vision 2025 der Münchner Stadtbibliothek. Tat es dann aber doch – denn was war schon normal in diesen Tagen? Der Visionsentwicklungsprozess der Münchner Stadtbibliothek war es nach bis dahin üblichem Verständnis jedenfalls nicht. Er fand nicht wie geplant in Besprechungsräumen der Bibliothek oder von Hotels statt, sondern auf der Videoplattform Webex. Nicht auf Flipcharts, Pinnwänden und Post-Its, sondern auf Miro und Mentimeter. Kaum zufällig steht also im Zentrum der Vision 2025 der Münchner Stadtbibliothek – als vierter von insgesamt sieben Abschnitten – die Formulierung: „Wir sind eine lernende Institution. Krisen und Kontroversen begreifen wir als Chance, uns zu entwickeln.“ So ausdrücklich und einmischend es ihm möglich war, hat unser Berater uns von dieser Aufnahme des Worts „Krise“ in die Vision abgeraten. Wir blieben und bleiben dabei.
Für jede Branche und jede Institution hielt COVID19 je eigene Herausforderungen parat. Die Münchner Stadtbibliothek ist, darin gleicht sie vielen Bildungsinstitutionen und vielleicht auch manchen Dienstleistungsunternehmen, in Folge der Pandemie buchstäblich implodiert. Die Programmarbeit wanderte in den digitalen Raum, die Mitarbeitenden ins Homeoffice, die Häuser wurden geschlossen, geöffnet, geschlossen, zu Abholstationen. Mit beinahe jeder neuen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung mussten die organisatorischen Einzelteile neu zusammengesetzt werden – bevor sie ein weiteres Mal auseinanderfielen. Das gilt auch und gerade für die interne Kommunikation, die in einem dezentralen System wie der Münchner Stadtbibliothek bis dato vor allem in Jourfixes einzelner Teams und größeren Runden mit den Führungskräften stattfand. Die Verlegung all dieser Besprechungen in den digitalen Raum verlief weitgehend problemlos und hatte einige Verschiebungen zur Folge. Zugleich fand mit regelmäßigen Updates zur Lage und einem Newsletter für alle Mitarbeitende eine Zentralisierung der Kommunikation statt, um den aktuellen Anforderungen gerecht zu werden.
Dass dem Wissensmanagement eine wichtige Rolle zukommt, auch und gerade in Krisenzeiten, weiß vielleicht niemand besser als Mitarbeitende einer Öffentlichen Bibliothek. Jede Mail, die eine wichtige Frage beantworten kann, jedes aufklärende Gespräch mit dem Arbeitsschutz-Team, jede Information, die an der richtigen Stelle anlangt, stärkt die Resilienz jedes und jeder Einzelnen und damit auch die Resilienz der Institution im Ganzen. Um es kurz zu machen: Bildung hilft – daran glaubt die Bibliothek per definitionem, und das hat die Münchner Stadtbibliothek in den vergangenen Monaten auch immer wieder am eigenen Leib erfahren dürfen. Etwas nicht zu wissen oder nicht zu verstehen, verunsichert und erzeugt Angst. Das stört, um es nüchtern zu sagen, den reibungslosen Ablauf der Prozesse. Die Temperatur steigt. Und der Ärger auf allen Seiten auch.
Dies ab- und aufzufangen mag online in vielerlei Hinsicht schwieriger sein als in Präsenz vor Ort. Zugleich haben wir zu viele der Vorteile des digitalen Austauschs kennen gelernt, als dass wir sie in Zukunft missen möchten. Klingt nach einer Nebensache, kann aber wirklich nerven: Nicht jede und jeder Mitarbeitende kann in den Häusern der Münchner Stadtbibliothek alle Türen öffnen, da wir mit codierten Schlüsselchips arbeiten. Bei Meetings jenseits der Öffnungszeiten der Bibliotheken wird das immer wieder zum Problem: Wie komme ich nun eigentlich ins Haus, wenn alle schon im Besprechungsraum im ersten Stock sitzen und niemand mehr die Klingel hört? Ein Link auf eine Videokonferenz dagegen, bietet diese Hürden nicht (sondern andere, schon klar). Überhaupt, dieses herrliche Nicht-Gebundensein an einen Ort! An größeren Runden teilzunehmen, die in der zentralen Stadtbibliothek Am Gasteig stattfinden, kostete manche unserer Bibliotheksleitungen fast zwei Stunden Fahrtweg. Die Teilnahme an einer Videokonferenz dagegen: ein Klick, von wo aus auch immer. Ein echter Segen also für eine derart dezentrale Institution wie die Münchner Stadtbibliothek. Und schließlich: auch unsere Räumlichkeiten sind begrenzt; erst die umfassende Einführung von Videokonferenzen hat es uns ermöglicht, über 70 Führungskräfte gleichzeitig zu versammeln, um mit ihnen Öffnungsszenarien und Strategieentscheidungen zu besprechen.
Mit all diesen Erfahrungen im Rücken formierte sich spontan ein bunt gemischtes Team, um über weitere Möglichkeiten und andere Zugänge für das Informations- und Wissensmanagement nachzudenken. Grundlage bildete die Erkenntnis, dass unglaublich viel informelles Wissen in der Münchner Stadtbibliothek vorhanden ist, das jedoch – der Begriff „informell“ sagt es ja bereits – kaum auf den üblichen Wegen vermittelt werden kann. Aus losen Ideen, Gehörtem und eigenen Erfahrungen formte die kleine AG ein vielfältiges Konzept aus mehreren Bausteinen, die individuelle Zugänge ermöglichen. #besserwissen – so der Name des Programms – besteht aus Online-Selbstlernkursen zu Themen wie Digitalisierung oder Diversität, klassischen Fortbildungen, einem Mentoring für Führungskräfte und dem Halbstunden-Format halb5, das auf der Videoplattform Webex stattfindet. Auch in der internen Kommunikation hat man schließlich längst begriffen, dass Nutzer*innen-Orientierung durchweg Sinn macht. Denn was nützt die beste Botschaft, wenn sie nicht ankommt?
Der Name „halb5“ gründet ebenfalls in unseren ‚Learnings‘, denn er nennt die Uhrzeit der Veranstaltung und damit also die wichtigste Gemeinsamkeit eines Online-Live-Meetings, das an und von jedem Ort mit Internetverbindung aus besucht werden kann. Die Themen sind bunt gemischt, sie reichen von Social Media bis Buchbinden, vom Beschwerdemanagement bis zum Escape-the-Room-Konzept; monologische Inputs sind höchstens als Eisbrecher gedacht, um bald ins offene Gespräch zu gehen, damit die Mitarbeitenden ausreichend zu Wort kommen – schließlich soll halb5 für sie da sein, nicht umgekehrt. Zugleich handelt es sich um einen Testballon: Nach der ersten Staffel wird evaluiert und weiterentwickelt.
Selbstredend dienten Formate wie „learn&lunch“ oder so genannte „Coffee Lectures“ als Vorbild, jedoch wollte halb5 genau nicht Pausenzeit in Arbeitszeit umwandeln, da diese Entwicklung aktuell ohnehin sehr kritisch zu beobachten ist. Vielmehr war unser Ziel, den Feierabend mit einem lockeren, niedrigschwelligen und vor allem fruchtbaren Austausch einzuläuten. Und während nach einer Coffeelecture oder einem Learninglunch alle meist schnell weiter klicken müssen zum nächsten Termin, bedeutet 17 Uhr für viele das Arbeitsende, so dass man gut und gern noch ein bisschen bleibt und den Tag entspannt plaudernd ausplätschern lässt. Ganz wie früher eben. Aber von heute.