Kritiken 2011: „Dein Name“ von Navid Kermani
Kritiken 2011: „Dein Name“ von Navid Kermani

Kritiken 2011: „Dein Name“ von Navid Kermani

Wollte man über Navid Kermanis neuen Roman Dein Name schreiben, dann finge man – Sie werden schon noch verstehen warum – am besten mit den Fakten an, die ein Text wie dieser hier üblicherweise verbirgt. Etwa damit, dass die Lektüre der 1229 Seiten grob geschätzt 35 Stunden dauerte, der ehemals etwa zehn Zentimeter lange Rezensentinnen-Bleistift währenddessen auf weniger als die Hälfte heruntergespitzt wurde und sein praktisch integrierter Radiergummi nun praktisch nicht mehr vorhanden ist (was unpraktisch ist). Anzurechnen wäre außerdem die Zeit, die es benötigte, diesen Text zu schreiben, den Sie gerade zu lesen begonnen haben. Allerdings lässt sich die Zahl der Stunden noch nicht beziffern, da wir uns gerade erst dem Ende des ersten Absatzes nähern, das wir hiermit erreicht haben.

Schon klar, das interessiert Sie alles wenig, schließlich gilt Ihre ganze Aufmerksamkeit der Frage: Wie ist er denn nun, der neue Kermani? Allein, das lässt sich nicht auf einen schmissigen Begriff bringen, weil dieses Buch eine ziemlich schlaue und schier unfassbare Ungeheuerlichkeit darstellt. Dein Name handelt von einem Schriftsteller namens Navid Kermani und bezeichnet sich selbst (unter anderem) als dessen „Hauptwerk“. Und damit hat es völlig recht, denn das ist ein Roman, der vom Schreiben erzählt und übers Erzählen schreibt und die Unterschiede zwischen Wahrheit und Fiktion, Tod und Leben, Ich und Er, Christentum und Islam in sich aufhebt. Ein Roman, den es gar nicht geben dürfte, ginge es nach ihm selbst; der sich behauptet und zugleich verleugnet, der einzig um sich selbst kreist und dadurch die ganze Welt in den Blick bekommt.

Ohnehin ist Dein Name nicht ein, sondern sind das zwei Romane, die Kermani ineinander stülpt und als deren Ko-Autoren er keine Geringeren als das Sein und das Nichts engagiert hat. In dem einen, dem „Totenbuch“, schreibt ein Ich gegen den Tod an, indem es sich dessen Willkür ausliefert: Es porträtiert Menschen, die während der Arbeit an ebendiesem Buch sterben. Vor, zwischen und hinter den Nachrufen aber macht sich der Nebentext immer breiter. Versehen mit exakten Angaben über Datum und Uhrzeit (auf deren Ungenauigkeit allerdings nicht selten hingewiesen wird) wie über Zeichen- und Kilobyte-Zahlen erzählt er von den Bedingungen, unter denen der „Romanschreiber“ Navid Kermani den „Roman, den ich schreibe“, schreibt. Ein Parcours der Hindernisse, die nichts verhindern, sondern alles antreiben und ausmachen: „Fehlende Anerkennung, tiefgreifende Selbstzweifel, finanzielle Engpässe, Lohnarbeiten, die Tage von Terminen zerstückelt, die er nicht selber festlegt“, dazu der schmerzende Nerv rechts neben dem Brustwirbel und die Migräne, die wackelige Schreibtischplatte und die kaputte Waschmaschine, die redseligen Sitznachbarn in Zügen und Flugzeugen, die ältere Tochter, die hin und her kutschiert werden will, und die jüngere, die zwei Monate zu früh zur Welt kommt. Nicht zu vergessen das Büro, das wegen der anhaltenden Eheprobleme „eine Wohnung werden könnte“, dann „keine Wohnung wurde“, dann doch „wieder eine Wohnung zu werden droht“, schließlich aber doch „keine Wohnung mehr wird“, weil nicht der Romanschreiber, sondern seine Ehefrau auszieht.

Das Begehren, einen Text auf seine Entstehungswirklichkeit hin durchsichtig zu machen, fällt freilich auf ihn selbst zurück: „Am liebsten würde er auch die Tippfehler bewahren. Wenn ihm ein Absatz nicht gefällt, streicht er ihn nicht, sondern schreibt im nächsten Absatz, daß der vorige ihm nicht gefallen hat. Nichts geht verloren, alles ist wert, aufbewahrt zu werden, alles von gleichem Gewicht, das Heilige und die Waschmaschine.“ Den „Vorsatz: nichts zu tun nur wegen des Romans, den ich schreibe“, hat der Romanschreiber ebenfalls bald gefasst. Eine Festanstellung lehnt er trotzdem ab, denn „ein Beruf passt nicht in den Roman, den ich schreibe.“ Seine Scheidung jedoch wendet er nicht ab, obwohl er sie „weder auf Erden noch im Roman gebrauchen kann“ (Letzteres ist natürlich gelogen).

Familie und Freunde, lebende wie tote Schriftsteller und deren Autorschaftskonzepte, Reisen nach Kaschmir, Afghanistan, Lampedusa, Nachdenken über Deutschland und den Iran, Lektüre und Lektorat der „Selberlebensbeschreibung“ seines Großvaters und später auch der Autobiografie seiner Mutter: Kermani nimmt das Subjekt als Unterworfenes beim Wort, wenn er Identität aus den Beschreibungen seiner Gegenüber, aus den Spiegelungen im Blick der Anderen, zusammensetzt und im Verschwinden zu fassen versucht. Tourt der Romanschreiber durch die Lande, um über Integration zu sprechen, dann ist von ihm nur als „der Handlungsreisende“ oder gleich als „der Islam“ die Rede. Im Kreise seiner Brüder heißt er nur „der Jüngste“, bei der Krebsuntersuchung „die Nummer 8581“. Auch alle Anderen treten je nur in ihrer Funktionalität auf, seine Frau ist „die Frau“, ein Freund „der Musiker“, ein Kollege „der berühmte Schriftsteller“. Manche von ihnen sterben, während „Dein Name“ entsteht; ihnen begegnet man ein zweites Mal – wenn sie zu einem Kapitel des Totenbuchs geworden sind. Dann erst nennt der Autor sie bei ihrem Namen, weil sie endlich keine weltliche Rolle mehr zu spielen haben.

Nachdem Dein Name die Zeit, das Ich, den Tod, die Wirklichkeit und den Leser – „Indem er Sie ignoriert, sind Sie schon da“ – dekonstruiert hat, knöpft er sich zu guter Letzt auch noch sich selbst vor. Als ein Verleger gefunden, das Buch überarbeitet und fertig geschrieben werden will, erfährt man, was alles hinzuerfunden und verschwiegen, umdatiert, dramatisiert und umbenannt wurde. Nicht einmal der Titel „Dein Name“ stammt laut Dein Name von dem Autor, der sein Buch lieber „In Frieden“ oder „Das Leben seines Großvaters“ oder „Der Riesenknödel“ nennen wollte. Und obwohl die Wahrheit bei Kermani – so viel Metaphysiker steckt dann doch in diesem Autor – immer jenseits der Buchstaben liegt, aus denen sich die Wirklichkeit zusammensetzt, will eine Wahrheit hier noch unbedingt ausgesprochen, ja, für die Ewigkeit festgehalten werden: Wer in Zukunft die besten Schriftsteller des Landes beim Namen nennt, der wird sich hoffentlich hüten, einen gewissen Romanschreiber unerwähnt zu lassen.

Navid Kermani: Dein Name. Hanser Verlag, München 2011. 1229 Seiten, 34,90 Euro.

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